Die Medizin steht vor einem Umbruch. Getrieben auch von der Corona-Pandemie schwappt eine Digitalisierungswelle durch die Krankenhäuser und die Hausarztpraxen. Betrachtet man die Entwicklung, dann wird schnell klar: Im Bereich Medizin ist der Top-Trend 2022 die Remote-Medizin. In die Diagnostik halten zudem Big Data und künstliche Intelligenz Einzug.
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Man mag es kaum glauben: Laut einer Studie des Verbands der Digitalbranche Bitkom setzt noch immer jede fünfte Ärztin und jeder fünfte Arzt auf das Faxgerät als bevorzugten Kommunikationskanal zu Kolleginnen und Kollegen. E-Mail hingegen nutzen gerade mal fünf Prozent der befragten Ärzte, auch zur Kommunikation mit Patienten. Dabei hat gerade die immer noch andauernde Corona-Krise gezeigt, wie wichtig digitale Prozesse im Gesundheitswesen sind. Sie können helfen, Sicherheitsdefizite auszugleichen und den Informationsaustausch zu beschleunigen.
Medizintrend Remote-Medizin: Der Doktor wird zugeschaltet
Allerdings: Corona hat auch in der Medizin die Digitalisierung massiv beschleunigt – mittlerweile sind die Medizintrends 2022 fast komplett digital. So ist etwa das Angebot an Videosprechstunden deutlich gewachsen. Laut der eingangs zitierten Bitkom-Studie haben mittlerweile 17 Prozent der deutschen Praxis-Ärzte ein solches Angebot – 11 Prozent mehr als vor Beginn der Pandemie. Dass die Pandemie hier der wichtigste Digitalisierungstreiber war, sehen auch die Ärzte selbst so: 75 Prozent der befragten Mediziner, die eine Videosprechstunde anbieten, sind der Ansicht, die Pandemie habe diesem Angebot einen starken Schub verliehen. Auf Seite der Patienten haben vor allem die 50- bis 64-Jährigen die Videosprechstunde für sich entdeckt: Mehr als ein Fünftel (22 Prozent) aus dieser Gruppe hat schon einmal einen digitalen Arztbesuch absolviert.
Operation per Videokonferenz
Dabei geht es bei der Tele-Medizin längst nicht mehr nur um die Behandlung von Schnupfen oder anderen Zipperlein: Auch bei Operationen ist die physische Anwesenheit von Spezialistinnen und Spezialisten immer seltener nötig. Sie schalten sich stattdessen per Video zu und können dann mit ihrer Erfahrung den Ärztinnen und Ärzten vor Ort zur Seite stehen. Die technischen Voraussetzungen dazu werden gerade geschaffen. „Eine wachsende Anzahl an Kliniken in Deutschland verfügt über hochmoderne, vernetzte Operationssäle. Neue bildgebende Verfahren, Augmented Reality und Robotik unterstützen Ärztinnen und Ärzte insbesondere bei hochkomplizierten Eingriffen und sorgen für mehr Präzision und Sicherheit“, sagt Dr. Ariane Schenk, Bereichsleiterin Health & Pharma beim Bitkom. Und: „Die flächendeckende Verfügbarkeit und Nutzbarkeit von 5G wird digitalen Operationssälen schon bald den nächsten Schub geben: Dadurch können komplizierte telemedizinische Operationen in Echtzeit durchgeführt werden.“
Die Mehrheit der Patientinnen und Patienten steht einer solchen Entwicklung positiv gegenüber. Laut Bitkom würden sich 56 Prozent von ihnen auch einer durch Video gestützten Operation unterziehen.
Medizintrend Wearables: Sensoren helfen bei der Patientenüberwachung
Schon diese Beispiele zeigen: Die digitale Vernetzung von Patient und Arzt ist einer der wichtigsten Medizintrends für das kommende Jahr. Dabei spielen auch „Wearables“ eine große Rolle. Sie helfen nicht nur Hobbysportler bei der Trainingsüberwachung, sondern sind zunehmend auch für den professionellen Einsatz geeignet. So erstellt die Scanwatch von Withings ein medizinisch genaues 1-Kanal-EKG und kann so etwa Vorhofflimmern erkennen. Damit kann die Uhr einen wichtigen Beitrag im Kampf gegen die häufigste Todesursache in Deutschland leisten: den Herztod. Vorhofflimmern betrifft nämlich etwa 3 Prozent der erwachsenen Bevölkerung in Europa und ist für ein Drittel aller Schlaganfälle verantwortlich. Über die Scanwatch können Ärztinnen und Ärzte dann auf die Patientendaten in Echtzeit zugreifen und so rechtzeitig Gegenmaßnahmen setzen.
Auch Krankenhäuser setzten auf Remote-Medizin
Auch in den Krankenhäusern erfreut sich die Fernüberwachung zunehmender Beliebtheit. So können sich in Tirol seit kurzem Covid-19-Patienten in die Obhut der Telemedizin begeben. Die Ärztinnen und Ärzte nutzen hierfür ein System, das ursprünglich zur Betreuung von Patienten mit Herzinsuffizienz entwickelt wurde. Es misst über einen Sensor am Ohr Körpertemperatur, Puls und Sauerstoffkonzentration und übermittelt diese Werte an das Krankenhaus . Bei Verschlechterung schlägt ein Überwachungsprogramm Alarm und veranlasst, dass der Patient telefonisch verständigt wird. Falls nötig, leitet das Krankenhaus zudem weitere Maßnahmen wie die Alarmierung des Hausarztes oder des Rettungsdienstes ein.
Ein weiteres Beispiel für Telemedizin:: Das Deutsche Herzzentrum in München hat vor kurzem eine Plattform aufgebaut, über die die Herzpumpenfunktion von Patienten nach kardiovaskulären Eingriffen überwacht werden kann. Solche Herzpumpen sind als temporäre Unterstützung bei Herzinsuffizienz gedacht. Mit diesem System, das in den USA bereits in über 1100 Krankenhäusern im Einsatz ist, lassen sich Funktion und Therapieverlauf rund um die Uhr überwachen.
Medizintrends Big Data und KI: Ein unschlagbares Paar für die Diagnose
In der Diagnostik werden Deep-Learning-Algorithmen in Verbindung mit Big Data eine zunehmend wichtige Rolle spielen. Mit Hilfe von KI sollen sich unterschiedliche Datenquellen, wie klinische Studien, Krankenhausinformationssysteme aber auch Sensor- und Bilddaten miteinander verknüpfen lassen. Das Ziel ist, die Behandlung von Krankheiten zu erleichtern und zu beschleunigen. So entwickelt das Helmholtz Zentrum in München eine Methode, bei der Deep-Learning-Algorithmen nach Blutkrankheiten suchen. Grundlage hierfür ist eine erstmalig erstellte Datenbank aus 170.000 Einzelbildern von mehr als 900 Patientinnen und Patienten mit verschiedenen Bluterkrankungen. Anhand dieser Datenbank sollen die Algorithmen trainiert werden. Damit soll die zeitintensive Suche nach den erkrankten Zellen verkürzt werden.
Big Data verbessert Heilungschancen
Solche Datenbanksysteme könnten auch helfen, den Auslöser einer Krankheit zu finden, etwa dadurch, dass sie die Krankenakten von Tausenden von Patienten analysiert und etwa mit Fachartikeln, Protokollen und ähnlichem abgleicht. „Die Medizininformatik ist heute in der Lage, riesige Datenmengen zu verarbeiten. Für die Zukunft der Medizin ergeben sich daraus ganz neue Perspektiven. Wir können so zum Beispiel aus der Analyse von anonymisierten Patientendatenbanken Schlüsse für die individuelle Therapie ziehen“, sagt Prof. Keywan Sohrabi von der Technischen Hochschule Hessen.
Ein Beispiel hierfür ist die Krebstherapie. Hier sollen Big Data und KI eingesetzt werden, um für jede Patientin und jeden Patienten die individuell optimale Behandlungsmethode zu finden und solche mit eher mäßigen Erfolgsaussichten hintenan zu stellen. Solche Analysen sind auf konventionellen Wegen sehr aufwändig, schnelle Computersysteme, wie die vom Hasso-Plattner-Institut gemeinsam mit SAP entwickelte In-Memory-Technologie können dies hingegen in Sekunden erledigen.
Digitalisierung: Ärzteschaft optimistisch
Laut Bitkom-Studie traut die deutsche Ärzteschaft KI und Big Data sogar noch mehr zu: So halten es 80 Prozent der befragten Mediziner für wahrscheinlich, dass spätestens im Jahr 2030 computergestützte Voraussagen flächendeckend im Einsatz sind, die vor Pandemien warnen und etwa durch Algorithmen die Dynamik von Infektionsgeschehen vorhersagen.
Aber noch scheitern solche Strategien oft an der Verfügbarkeit der Datenbanken – und bisweilen ist auch der Datenschutz im Wege. Es gilt daher nicht zuletzt, die erforderlichen gesetzlichen Rahmenbedingungen zu schaffen. Sie müssen die Anwendung nützlicher digitaler Medizintrends ermöglichen und unterstünden – andererseits aber auch eine Monopolstellung von Datenzugängen ausschließen. Angesichts der riesigen Vorteile der beschriebenen Technologien für Ärzte und Patienten wäre zu hoffen, dass die Politik sich hierfür nicht allzu viel Zeit lässt.