Traditionelles Ladengeschäft und/oder Online-Plattform? Das ist eine große Frage, die viele Einzelhändler derzeit bewegt. Die Antwort darauf lautet aber in der Regel nicht „entweder oder“ sondern „sowohl als auch“. Bei der Digitalisierung des Einzelhandels steht derzeit in erster Linie das Thema „Omnichannel“ im Fokus. In dieser Folge unserer Serie „Wohin geht es in Digitalien?“ beleuchten wir daher vor allem, wie Händler diese Strategie umsetzen wollen.
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Wie etwa auch im Bildungswesen, hat Corona die Digitalisierung im Einzelhandel ebenfalls stark vorangetrieben. Laut einer Ende 2021 veröffentlichten Studie des Branchenverbands Bitkom verkaufen mittlerweile 85 Prozent aller Einzelhändler ihre Waren entweder nur noch oder parallel zu einem stationären Geschäft im Internet. Zum Vergleich: Noch 2019 waren es erst 58 Prozent.
Digitalisierung im Einzelhandel: Corona als Weckruf
Insbesondere an Bedeutung gewonnen haben dabei Online-Marktplätze, wie sie eBay, Amazon oder auch Zalando anbieten. Sie werden von 72 Prozent der Händler genutzt, 2019 lag dieser Anteil erst bei 46 Prozent. „Die Corona-Pandemie war für einen großen Teil der Handelsunternehmen ein Weckruf“, ist Bitkom-Präsident Achim Berg überzeugt. „Viele haben die Digitalisierung in den vergangenen zwei Jahren vorangetrieben und sich online ein zweites Standbein aufgebaut. Spätestens jetzt ist klar: Eine gute Online-Präsenz ist für Einzelhändler kein Nice-to-have – sie ist Pflichtprogramm.“
Kunden wollen beides: stationären Handel und digitale Angebote
Auch wenn es derzeit danach aussieht, als würde der digitale Handel dem stationären bald den Rang ablaufen, so ist dies noch längst keine ausgemachte Sache. Im Gegenteil. Gerade die Corona-Krise hat häufig die Beziehung zum Geschäft um die Ecke gefestigt. So kauften 60 Prozent der Internet-Nutzerinnen und -nutzer bewusst bei Einzelhändlern in ihrer Nähe ein, um ihnen während der Corona-Pandemie die Treue zu halten.
Und natürlich haben stationäre Geschäfte auch sonst ihre Vorteile. Nur hier lässt sich die Ware anfassen und ausprobieren. Die Produkte können direkt mitgenommen werden, und in der Regel gibt es auch eine professionelle Beratung. Für viele Kunden ist das Shoppen im Geschäft auch ein Stück weit Erlebnis. Es zählt für viele als Freizeitvergnügen. Allerdings: Etwa genauso viele Kunden, die ein Offline-Geschäft unterstützen, nämlich 61 Prozent, vermissen gleichzeitig Online-Angebote der Geschäfte in ihrer Region.
Bei den Händlern treffen solche Ansprüche an sich auf offene Ohren. Sie sind bereit, in den digitalisierten Handel zu investieren. 75 Prozent sehen dies als Chance für ihr Geschäft, nur 22 Prozent als Risiko. Allerdings: Für die allermeisten ist dies eher eine einmalige Sache. Lediglich zwei Prozent der Handelsunternehmen wollen Jahr für Jahr kontinuierlich in die Digitalisierung investieren. „Digitalisierung hat einen Anfang, aber letztlich kein festes Ende – Digitalisierung ist ein dauerhafter Prozess. Der digitale Wandel verlangt entsprechend dauerhafte Investitionen“, mahnt Bitkom-Präsident Berg zu diesem Thema.
Trend ROPO: Online aussuchen, offline kaufen
Das liegt auch daran, dass das Verhalten der Käufer sich ständig ändert und entsprechend die Verkaufsstrategie angepasst werden muss. So gehen Kunden, die ein bestimmtes Produkt suchen, immer mehr dazu über, zunächst das Internet zu befragen. Hier finden sich Produktinformationen, Preise, aber auch Alternativen. Um das Produkt zu prüfen, gehen dann trotzdem noch viele in ein lokales Geschäft und entscheiden sich dort für den Kauf. Diese Vorgehensweise heißt in der Fachsprache ROPO-Effekt (Research Online, Purchase Offline).
Laut dem „Handbuch für den stationären Handel“ des Handelsverbands Bayern gehen bereits 61,3 Prozent des Umsatzes im stationären Non-Food-Handel eine Onlinerecherche voraus. Das entspricht einem Umsatzvolumen von rund 120 Milliarden Euro. Diese Zahlen gelten für 2020 und dürften seither noch deutlich gewachsen sein. Den umgekehrten Weg, also sich im Geschäft beraten zu lassen und dann online zu kaufen, nutzen hingegen sehr viel weniger Kunden. Diese Gruppe generiert gerade mal 12 Prozent des Umsatzes. Zumindest diese Zahlen sagen somit: Kaufleute brauchen keine Angst vor dem digitalisierten Handel zu haben.
Omnichannel: digitaler Handel mit dem Besten aus zwei Welten
Das derzeit wichtigste Schlagwort für die Digitalisierung im Einzelhandel heißt deshalb „Omnichannel Services“. Dabei geht es darum, beide Kanäle – online und offline – gleichzeitig zu bedienen und das Beste aus beiden Welt zu bieten. Dafür gibt es verschiedene Tools. Eines, das Entscheiderinnen und Entscheider im deutschen Handel als am wichtigsten einschätzen, ist laut der EHI-Studie „Connected Retail“ die Verfügbarkeitsanzeige stationärer Bestände im Onlineshop. Damit ersparen sich Kunden unnötige Wege. 94,5 Prozent der Befragten haben dies in ihrem Geschäft bereits umgesetzt oder zumindest in Planung. Ebenfalls eine hohe Priorität für die Kaufleute hat der Instore-Order-Service – eine Bestellung in der Filiale und anschließende Lieferung nach Hause. 85,6 Prozent der Befragten bieten diesen Service aktuell an oder planen dies. Dahinter folgt der Service „Click & Collect“ mit Kauf online und anschließender Abholung und gegebenenfalls auch Bezahlung in einem stationären Ladengeschäft (79,1 Prozent). Eine Videoberatung plant hingegen erst ein Fünftel der Befragten.
Geschäfte rund um die Uhr offen
Die Händler erwarten auch, dass sich der stationäre Handel durch die Digitalsierung stark verändern wird. So vermutet laut Bitkom-Studie jeder zweite Händler (49 Prozent) und auch die Hälfte der Internet-User (50 Prozent), dass im Jahr 2030 durch den Einsatz digitaler Lösungen viele Geschäfte durchgängig, also 24 Stunden am Tag, an sieben Tagen in der Woche geöffnet sein werden. 69 Prozent der Händler und 51 Prozent der Internet-User gehen davon aus, dass die Kassen schon bald aus den Läden verschwinden könnten und das Bezahlen beim Verlassen eines Geschäfts automatisch ablaufen wird. „Was in Deutschland wie Zukunftsmusik klingt, ist in anderen Teilen der Welt schon Realität“, sagt Bitkom-Hauptgeschäftsführer Dr. Bernhard Rohleder. „Insbesondere in einigen asiatischen Ländern kann man den so genannten ‚New Retail‘ bereits live erleben.“
Digitaliserung im Handel macht Kassen überflüssig
Erste Ansätze hierzu gibt es aber auch schon hierzulande. So testet etwa Rewe seit Herbst 2021 unter dem Schlagwort Pick & go den kassenlosen Verkauf. Vorbild hierbei ist Amazon: Die Kunden können sich Waren einfach in den Einkaufswagen laden, Kameras und Sensoren an den Regalen registrieren, welche das sind und vermerken sie im Benutzerkonto. Dabei ist es selbstverständlich auch möglich, ein Produkt wieder zurückzulegen. Beim Verlassen des Marktes wird automatisch über eine App abgerechnet. Derzeit kann dieses Modell für den digitalisierten Handel aber nur in einer Rewe-Filiale in Köln ausprobiert werden.
Der Discounter Netto testet unter dem Namen Scan & Go ebenfalls ein kassenloses System. Käufer müssen hier aber mit dem Smartphone einen Bar-Code am Produkt scannen. Die so erfassten Waren werden dann in die Einkaufsliste aufgenommen, bezahlt werden kann direkt über die App. Diese Methode ist die am schnellsten wachsende. Laut EHI gibt es bereits über 100 Märkte im deutschsprachigen Raum, die ein solches Self-Scanning anbieten. Und nachdem das Smartphone unser ständiger Begleiter geworden ist, dürfte es bei dieser Anzahl wohl nicht bleiben.