Katastrophenschutz mit KI? Kann Künstliche Intelligenz beim Schutz der Menschen gegen Katastrophen wie die jüngste Flutkatastrophe helfen?

Flutkatastrophe: Kann KI beim Katastrophenschutz helfen?

Bei der Frage nach den Lehren aus der jüngsten Flutkatastrophe rücken zunehmend auch technologische Werkzeuge in den Mittelpunkt. So wird etwa auch darüber diskutiert, ob und wie Künstliche Intelligenz bei der Vorhersage von Katastrophen und beim Schutz der Bevölkerung helfen könnte. Die Überlegungen gehen sogar so weit, KI als Werkzeug gegen den Klimawandel zu nutzen. Wir haben mit Dr. Leon R. Tsvasman darüber gesprochen, welche dieser Vorstellungen realistisch sind und welche nicht.

Aufmacherbild: istockphoto.com/gdagys

Immer noch werden Menschen vermisst, immer noch räumen Helfer nach Leibeskräften Schlamm und Schutt auf – und in manchen Gegenden gibt es nach wie vor keinen Strom und kein Wasser. Währenddessen läuft die Diskussion auf Hochtouren, was wir aus der Flutkatastrophe lernen sollten. Dabei stehen insbesondere auch technologische Ansätze im Fokus – sei es eine Verbesserung des Warnsystems oder auch der Einsatz von Werkzeugen wie Künstlicher Intelligenz. Was kann KI beim Katastrophenschutz wirklich leisten? Und welche Erwartungen werden wohl unerfüllt bleiben? Darüber haben wir – anlässlich unseres Themenspecials zur Flutkatastrophe sozusagen außer der Reihe – mit dem KI-Experten und Informations-Philosophen Dr. Leon R. Tsvasman gesprochen.

Katastrophen als unvermeidliche Folge von Komplexitätsreduktion

Intelligente Welt: Selbstverständlich hat KI ihren Platz bei Wettermodellen, der Vorhersage von Starkwetter-Ereignissen und anderen Prognosen rund um den Klimawandel. Aber ist es realistisch, von KI auch Hilfe beim Schutz vor Katastrophen zu erwarten?

Dr. Tsvasman: Ich möchte an dieser Stelle nicht zu theoretisch ausholen. Dennoch muss ich noch einmal die Feststellung erwähnen, die inzwischen sogar bei kompromisslosen Technokraten angekommen ist: Es geht nicht darum, Dinge möglichst fest und stabil zu bauen. Immerhin wissen wir aus Erfahrung, dass alles was starr und unveränderlich zusammengesetzt ist, langfristig keinen Bestand hat. Viel wichtiger sind dynamische Größen der Anpassungsfähigkeit, die mit Skalierbarkeit und Ergonomie einhergehen. Nachhaltigkeit geht nicht ohne Widerstandsfähigkeit – auch das wissen mittlerweile nicht nur Forscher, sondern auch ausreichend gebildete Ingenieure, Entwickler und einige Politiker.

Allerdings heißt Wissen nicht automatisch, dass diese Erkenntnisse auch umgesetzt werden. Zudem werden die nach starren Konzepten verbauten Infrastrukturen unsere Landschaften noch lange prägen. In der Regel können wir nicht eimal gleichzeitig nachhaltig und resilient handeln. Nicht das Wetter ist unser Feind, sondern unsere Unfähigkeit, mit seinen unvorhersehbaren Auswirkungen zu leben. Und damit meine ich nicht, Zerstörungen einfach hinzunehmen und opferbereit zu sein – sondern unsere Widerstandsfähigkeit zum Beispiel durch Flexibilisierung der Lebensräume zu verbessern.

Wenn Menschen mit ihrem Hang zur Komplexitätsreduktion ihre Umwelt und die eigene Natur umkrempeln, so können sie das nur grob – angesichts immenser Reibungsverluste aufgrund der mediengestützten zwischenmenschlichen Kommunikation und nicht gerechtfertigter Hierarchien. Also sehr selektiv und exemplarisch, alles andere als umfassend, verlässlich und vor allem individuell. Die Folge sind dann unter Umständen Katastrophen mit vielen Opfern.

KI kümmert sich um die trivialen Dinge, der Mensch um gegenseitige Ermöglichung

Dr. Tsvasman: Genau hier sehe ich eine große Chance von KI. Wie wir in den bisherigen Folgen unserer Gesprächs- und 360-Grad-Serien ja immer wieder herausgearbeitet haben, favorisiere ich, diese Reibungsverluste durch ein umfassendes datengestütztes Echtzeit-Management zu reduzieren. In die Empfehlungen der von mir skizzierten Mensch-KI-Intersubjektivität würden dann sinnvolle präventive und reaktive Maßnehmen mit einfließen.

Als wir ohne KI beinahe keine Tools hatten, um die umfassende und individuelle Anpassungsfähigkeit unserer Lebensräume zu gewährleisten, handelten wir den Umständen entsprechend. Aber wenn wir die inzwischen ausbaubare oder mindestens planbare KI nicht auch dafür berücksichtigen, unsere Infrastrukturen widerstandsfähig und skalierbar zu machen, handeln wir geradezu fahrlässig. Um jedoch auch die starke globale KI rechtzeitig und sinnvoll zu berücksichtigen, müssen wir unsere gesamte Zivilisation neu denken – das ist die Herausforderung.

Um es noch einmal auf den Punkt zu bringen: KI kann menschliche Urteilsbildung erst ermöglichen, indem sie uns von der Notwendigkeit befreit, untereinander zu konkurrieren, andere zu überwältigen. Einfach dadurch, dass wir dann besseres zu tun haben. Nämlich die Welt und uns selbst in unserer Potenzialität zu erkennen und dieses Wissen mit mehr Wahrheitsanspruch umzusetzen, statt weiterhin mit Chimären zu kämpfen, und Hexen und Strohmänner zu verbrennen. KI kümmert sich in meiner inzwischen umfassenden Vision der Zukunft um die trivialen und trivialisierbaren Dinge und Infrastrukturen. Und die Menschen widmen sich dem „Nicht-trivialen“ – der gegenseitigen Ermöglichung im Rahmen ihrer spezifisch menschlichen Potenzialität.

Im Zusammenhang mit Katastrophenschutz heißt das: Menschen können reagieren, sie können Gefahren erkennen und sozial begrenzen – also auch dann Konsequenzen ziehen, wenn nicht sie selbst, sondern andere betroffenen sind. Sie können sich gegenseitig helfen. Aber ohne eine global lernende Hilfsintelligenz können wir keine verlässliche Prävention in Komplexitätsbereichen wie Wetter, Epidemiologie usw. erreichen. Und wir haben es mittlerweile zu akzeptieren, dass fast alle Lebensbereiche zu solchen Komplexitätsbereichen werden.

Katastrophenschutz als individueller Ratgeber jedes Einzelnen

Intelligente Welt: Wie könnte so eine Unterstützung durch eine weltweite KI-Infrastruktur im Kontext Katastrophenschutz ganz konkret aussehen?

Dr. Tsvasman: Ein umfassendes KI-gestütztes Echtzeit-Monitoring mit höchstem Individualisierungsgrad könnte bedeuten, dass jeder Betroffene laufend die nur für ihn bestimmten Informationen und Rettungsanweisungen bekommt. Statt pauschalen Hinweisen wie „Laufen Sie alle Richtung A“, heißt präventive oder reaktive telematische Steuerung in Katastrophenfällen, dass jeder Mensch für ihn optimale Hinweise bekommt, die die Besonderheit seiner aktuellen Position dynamisch und in Echtzeit berücksichtigt. Prävention und Reaktion verschmelzen so zu einem umfassenden, in hohem Maße individualisierten Katastrophenschutz. Er könnte alle relevanten Faktoren aufgrund der sich laufend verändernden Bedingungen in Echtzeit berücksichtigen. Vorausgesetzt natürlich, diese Daten liegen auch in Echtzeit und hoher Qualität vor.

Laut meinen Recherchen kamen es bei den jüngsten tsunamiartigen Überschwemmungen in Rheinland zu den meisten Opfern aufgrund falscher Annahmen oder fehlender Informationen. Viele rannten zum Beispiel nach außen, statt sich in den überwiegend länger intakt gebliebenen Häusern auf die Dächer zu begeben. Aber bei einigen war die Situation eben genau umgekehrt. Und viele konnten nicht gewarnt werden – sie wurden im Schlaf überrascht. Auch sonst sind bei Katastrophen die üblichen Verhaltensregeln oft von unerwarteten oder spezifischen Faktoren überholt und fast immer zu pauschal. Ein telematisch gestütztes Echtzeit-Monitoring würde jeden Menschen individuell und dynamisch anweisen und auf seinen eigenen, optimalen Rettungsweg führen. Das wäre natürlich viel besser als pauschale Faustregeln wie: „Tun Sie im Katastrophenfall alle dies oder jenes.“

Fast alle Betroffenen beschreiben das Gefühl der Ohnmacht. Ich befürchte, dass diese ohne Unterstützung durch das, was ich als Mensch-KI-Intersubjektivität bezeichne, zunehmend zum Leitmotiv unserer Wirklichkeit werden könnte. Wir können reagieren, aber wir können keine Prävention – vor allem nicht, wenn sie Einbußen bedarf. Wir verstehen Komplexität nicht, und auch Politik ist dafür kein geeignetes Werkzeug – mit der Natur kann man nicht verhandeln.

KI gegen die globale Erwärmung?

Intelligente Welt: Die überwiegende Mehrheit in der Wissenschaft ist sich einig, dass zunehmende Extremwetterereignisse eine Folge des Klimawandels sind. Kann KI dazu beitragen, die globale Erwärmung zu begrenzen?

Dr. Tsvasman: Wenn wir uns fragen, ob „der Mensch“ oder „die Natur“ die globale Erwärmung verursacht haben, trennen wir den Menschen von der Natur – als wäre der Mensch nicht Ergebnis der natürlichen Evolution. In der Wissenschaft ist es oft wichtiger, eine Frage richtig zu stellen, als sie dann zu beantworten.  Wenn schon die Frage falsch gestellt ist, wird die Antwort nur scheinbar nützlich sein.  Wenn wir eine solche Antwort dann für „wahr“ halten, können wir sehr weit gehen und dabei fest davon überzeugt sein, dass eine Art Scheinwerfer des Wissens unseren Weg erhellt.

Ist unser Weg der industriekapitalistischen Konsumzivilisation ein solcher „Weg der Blinden“? Am meisten beunruhigt mich dabei das Diktat des „Realismus“ oder die Illusion des mehr oder weniger verlässlichen Wissens, das nicht laufend revidiert gehört. Was passiert mit einem Käfer, der denkt, der Tisch sei endlos, und er läuft über den Rand hinaus?  Er wird noch Zeit haben, sehr überrascht zu sein, wenn er abstürzt. In unserem Fall führt die unerwartete Erkenntnis, dass die Welt anders oder einfach nur komplexer ist als wir dachten, zu unvorhersehbaren sozialen Umwälzungen bis hin zu planetarischer Panik.

Wir erleben heute bereits die Ansätze eines solchen Szenarios, und wenn wir Künstliche Intelligenz falsch einsetzen, kann dies noch eskalieren. Aus irgendeinem Grund glauben wir, dass „die Maschine es besser weiß“. Dabei ist in Wirklichkeit nicht die Maschine das Problem, sondern wer sie programmiert und wie. Überlässt man KI den üblichen Einflussgruppen, die ihre „Erfolge“ ja bereits in ihrer ganzen Pracht gezeigt haben, wird KI schneller als der Mensch „den Tischrand erreichen“ – das ist aber auch schon alles.  KI wird die Aufdeckung unseres höchstwahrscheinlich falschen Sein-Paradigmas beschleunigen.

Wir wissen nicht, wie die Welt eigentlich wirklich funktioniert

Dr. Tsvasman: Dass die Kreisläufe der Natur schon immer für die Katastrophen sorgten, weil sie mit unserer auf verkürzten linearen Konzepten aufbauenden Zivilisation kollidierten, spricht dafür, dass sie wirklich existieren und die Existenz von Ökosystemen bestimmen. Es wäre jedoch ein Fehler, bei einer solchen Schlussfolgerung stehen zu bleiben. Absolut alle Errungenschaften der Wissenschaft tragen den Stempel der einen oder anderen Etappe in der Entwicklung unserer Gesellschaft. Wir wissen nicht, wie alles eigentlich funktioniert – und maskieren unsere Beunruhigung darüber trotzdem mit „wissenschaftlichen Erkenntnissen“.

Das Problem wurde schon in den 1920er Jahren erkannt. Damals vermutete eine Reihe von Denkern das Entstehen einer globalen Intelligenz – in Russland etwa in Gestalt der „Noosphäre“ nach Vladimir Vernadsky. Dieses Konstrukt sollte bereits die unvermeidliche Verzerrung kompensieren, die der Erkenntnisprozess in die Realität mit sich bringt. Solange wir etwas nicht beobachten, existiert dieses „Etwas“ einfach nicht, sagt das Unsicherheits-Prinzip der Quantenmechanik. All dies sind Versuche, irgendwie in einer Welt zu überleben, die sich unserem Verständnis wahrscheinlich immer mehr entziehen wird.

Doch welche Rolle spielen dabei Werkzeuge? Hat der Taschenrechner alle zu großartigen Mathematikern gemacht? Schulkinder, die einen Taschenrechner unter ihren Schreibtischen verstecken, rechnen schneller. Aber es ist unwahrscheinlich, dass selbst herausragende Mathematiker besser verstehen, was eine Zahl als solche ist, als es etwa Leonhard Euler vor dreihundert Jahren verstanden hat.

Alles hängt von der richtigen Aufgabenstellung ab

Dr. Tsvasman: Falsch eingesetzt, unterstützt die analytische Attitüde unseres Denkens – stellvertretend für die „ausgelagerte“ KI – immer noch Konstrukte wie „Sozialsystem“ mit Bürokratie als Folge oder „rationales Handeln“ im Kontext der zu trivial verstandenen Ökonomie. Dabei könnte KI ein ernstzunehmendes Werkzeug werden, um die „Realität“ zu verstehen.  Eigentlich ist KI nur ein Werkzeug, wie ein Hammer: Mit einem Hammer kann man Häuser bauen oder einen Mitmenschen töten – alles hängt vom richtigen Einsatz ab. Man könnte auch sagen: von der Aufgabenstellung. Deshalb habe ich diesen kleinen philosophischen Exkurs begonnen. Um zu verdeutlichen, wie wichtig es eben ist, die Aufgabe für eine globale KI richtig zu stellen.

KI ist ein optimales Werkzeug zur Korrektur der technischen, rationalen Seite des Lebens, also der trivialen oder trivialisierbaren Bereiche unserer gemeinsamen Wirklichkeit. Idealerweise sollte sie die Selbstregulation dieser Aspekte übernehmen, um uns selbst aus unserer Gegenwart zu befreien. Die größte Gefahr auf diesem Weg ist die Diktatur von oft selbsterzeugten Tatsachen oder falsche „Relevanz“, die Irreversibilität schafft. Dann wird das Potenzial einer komplexeren Lebenswelt durch primitive Inkarnationen einer vereinfachten Überlebenswelt getötet. Die Zukunft ist immer ambivalent.

Neben den universellen Kräften der Selbstregulation, der Potenzialität und der Aktualität wirken auf diesem Planeten erkennende Menschen, die die Kontrolle übernehmen wollen. Sie betreiben deshalb zwanghaft ihre Komplexitätsreduktion und machgen Konzepte wie „lineare Zeit“ dabei zu ihren trivialen Leitmodellen.

Komplexitätsanpassung statt Komplexitätsreduktion

Dr. Tsvasman: Heute operieren wir mit den besten Konzepten des 19. und noch früherer Jahrhunderte. Als wir Kunststoff erfunden und produziert haben, um zum Beispiel Lebensmittel so zu verpacken, dass sie länger haltbar bleiben, war es gut. Dann haben wir die Plastikabfälle ins Meer geworfen, nun wird Kunststoff verpönt. Solche Widersprüche und Veränderungen sind ganz typisch für eine Welt linearer Abhängigkeiten. Entfernen wir nun Kunststoff aus unserem Leben, ist die Gefahr groß, dass wir es durch etwas ersetzen, was langfristig auch wieder ein Problem verursachen wird. Um diesem Kreislauf von selbsterzeugten Problemen zu entkommen, müssen wir verstehen, dass und vor allem wie alles zusammenhängt.

Ich dämonisierte Komplexitätsreduktion als Praxis-Tool des tätig erkennenden Menschen übrigens gar nicht. Nur schlage ich zusätzlich eine skalierbare „Komplexitätsanpassung“ als zivilisatorisches Upgrade vor. Und das kann meiner Meinung nach nur mit der Mensch-KI-Intersubjektivität erfolgen. Denn je mehr Komplexität wir mithilfe von KI kontrollieren können, desto weniger destruktiv wird unsere Komplexitätsreduktion. Meine Haltung dazu habe ich einmal aphoristisch formuliert: „Das Gute ist nie evident, aber immer möglich; das Böse ist jedoch alles, was von der Möglichkeit des Guten ablenkt.

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