KI und Gesundheitswesen – wie sieht das Zusammenspiel von Künstlicher Intelligenz und Medizin beziehungsweise E-Health heute, morgen und übermorgen aus?

360 Grad KI: Künstliche Intelligenz und das Gesundheitswesen

Was leistet Künstliche Intelligenz schon heute in Medizin und Gesundheitswesen? Was ist in nächster Zeit darüber hinaus geplant? Und worauf könnte die Entwicklung hinauslaufen, wenn wir etwas weiter in die Zukunft blicken? In unserer neuen Serie über die Anwendungen und Auswirkungen von KI suchen wir Antworten auf diese Fragen – wieder im Austausch mit dem KI-Experten und Philosophen Dr. Leon R. Tsvasman.

Aufmacherbild: AdobeStock, Gorodenkoff

Seit April 2020 haben wir uns im Rahmen der umfassenden Gesprächsreihe „Inside KI“ mit mit den Aspekten von Künstlicher Intelligenz nicht zuletzt in philosophischer Dimension befasst. Unser Gesprächspartner Dr. Leon R. Tsvasman, Philosoph, Hochschuldozent, Kommunikations- und Medienwissenschaftler, hat uns dabei viele spannende und zum Teil auch überraschende Perspektiven aufgezeigt.

Nachdem wir in insgesamt zehn Folgen „Inside KI“ nun ein recht umfassendes und vielschichtiges Bild der Perspektiven von Künstlicher Intelligenz gezeichnet haben, möchten wir unseren Fokus nun etwas verändern. Unsere neue Serie nennen wir deshalb „360 Grad KI“: Ausgehend von KI-Anwendungen, wie sie heute schon verfügbar sind und in den entsprechenden Branchen eingesetzt werden, schlagen wir eine Brücke – von heute zu morgen.   Dr. Leon R. Tsvasman bleibt uns dabei als Experte und Gesprächspartner erhalten.

Den Anfang unserer neuen Serie macht das Gesundheitswesen beziehungsweise die Health-Branche. Unsere Fragestellung lautet also: Wie sieht die Nutzung von KI im Bereich Gesundheit heute aus, in welche Richtung entwickelt sie sich weiter, und wie könnte das Zusammenspiel von Künstlicher Intelligenz und dem menschlichen Alltag morgen und übermorgen aussehen?

Von Bilderkennung bis zur medizinischen Forschung

Im medizinischen Bereich kommen KI-basierte Lösungen bereits heute auf breiter Front zum Einsatz. Dabei profitieren solche Lösungen in erster Linie von per Machine Learning trainierter Mustererkennung. Die praktischen Anwendungen umfassen beispielsweise die Analyse von Röntgenbildern, MRTs, Wundfotografie und sogar Videoaufnahmen. Das Grundprinzip ist immer dasselbe: Durch das Training hat „die KI“ gelernt, welche Merkmale zu beachten sind – beispielsweise sich bildende Tumore. Der große Vorteil gegenüber einem menschlichen Analysten und Beobachter: Die KI ermüdet nie und wird nie unkonzentriert. Sie analysiert das 500ste Bild mit derselben Präzision und nach exakt denselben Algorithmen wie das erste.

Zudem ist künstliche Intelligenz heute ein wichtiges Werkzeug in der klinischen Forschung. Dabei geht es vor allem um „Big Data“ – also das Erkennen von Korrelationen in Datenbeständen über Diagnosen, Krankheits- und Behandlungsverläufe. Gibt es bestimmte Faktoren, die etwa das Risiko einer bestimmten Erkrankung erhöhen? Und umgekehrt Hinweise auf Eigenschaften oder Angewohnheiten, die sich gegebenenfalls als Teil von Therapieplänen zur Behandlung oder sogar schon im Vorfeld zur Prävention eignen? Dabei kann die KI in der Regel nur Korrelationen (also Zusammenhänge) erkennen. Ob dahinter auch Kausalitäten, also Wirkketten stehen, müssen die Forscher dann mit zusätzlichen Analysen und Versuchen klären.

Voraussetzung dafür ist allerdings, dass analysierbare Daten auch in geeigneter Form zur Verfügung stehen – ein Grund, warum Gesundheitsapps und auch die im Aufbau befindliche elektronische Patientenakte „ePA“ um anonyme Datenspenden für die Forschung wirbt.

Hinzu kommen die Möglichkeiten, die sich aus der „digitalen Selbstvermessung“ etwa mit Fitnesstrackern oder immer funktionsmächtigeren Smartwatches ergeben. Zunehmend zählen auch Alltagsgegenstände wie Waagen, Zahnbürsten oder bei Diabetikern Insulinpens zum „Internet of Medical Things“. Auch sie tragen somit analysierbare Daten bei.

Bei Innovation muss auch der Datenschutz gleich mit gedacht werden

Dr. Leon R. Tsvasman betont: „Für die weitere Verbreitung praktischer KI-Anwendungen müssen auch tragfähige Datenschutzlösungen gefunden werden. Es gilt, die Befürchtungen von Medizinern und Patienten zu verringern. Das wiederum hängt stark mit der Gesetzgebung, aber auch Bildungssystem und Forschung zusammen“.

Der KI-Philosoph führt weiter aus: „Da Medizin heute, und gerade im Hinblick auf smarte Technologien, nicht mehr nur als Wissenschaft, Handwerk und Dienstleistung , sondern als System betrachtet wird, müssen wir KI in der Medizin ebenfalls systemisch denken.“ Das Gesundheitssystem im traditionellen Sinne würde so durch KI mindestens erweitert – wobei Tsvasman lieber von einem Upgrade oder „Emergenz“ spricht. Dieser gerade in der Philosophie oft verwendete Begriff bezeichnet die Möglichkeit der Herausbildung von neuen Eigenschaften oder Strukturen eines Systems.

Dr. Leon R. Tsvasman: „Systemübergreifend werden mit KI zuerst bestehende Routine-Prozesse optimiert und von Redundanzen befreit. Im nächsten Schritt folgen Systemänderungen, die auch das Design der soziotechnischen Systeme betreffen – etwa um die Individualisierung zu steigern und Real-Time-Anwendungen zu integrieren. Ein Beispiel dafür ist etwa das Monitoring von Körperfunktionen. All dies ermöglicht präzisere Diagnostik, effizientere Behandlung und vor allem zunehmend effektive Prävention.“

Tsvasman erwartet in diesem Zusammenhang etwa mit dem Einzug von KI und Robotik in die Medizin noch spannende Innovationen in vielen Bereichen. „Auch digitale Gesundheitsassistenten, die mit dem Monitoring von Körperfunktionen gekoppelt werden, sind bereits in Entwicklung oder in frühen Formen bereits auf dem Markt. Auch Organimplantate, die auf 3-D-Druckern hergestellt werden, sind realistischer, als man denkt. Ähnliches gilt für Pillen mit Mikrocomputern, die eine dynamische Bildgebung oder auch die Korrektur oder Behandlung von vaskulären oder anderen Störungen ermöglichen.“

Operations- oder Pflegeroboter sowie automatisierte Diagnostik in bestimmten Bereichen seien zwar ebenfalls gut denkbar. Gleichzeitig, so Dr. Tsvasman, erzeugen sie aber die meisten Bedenken. Sie würden sich also in voller Komplexität wahrscheinlich nicht so schnell fleckendeckend durchsetzen – wohl aber in einzelnen Bereichen.

Das aktuelle Systemdesign im Gesundheitswesen stößt an seine Grenzen

Tendenziell gehe es in der Medizin beziehungsweise im Gesundheitssystem darum, die Interessen der Betroffenen und auch der beteiligten Akteure so am Hauptzweck des Systems auszurichten, dass weniger Redundanzen entstehen, analysiert Dr. Leon R. Tsvasman. Doch dabei stoße das aktuelle Systemdesign bereits massiv an seine Grenzen. „Im Grunde geht es jedoch darum, dass wir im Sinn des übergreifenden Gesundheitsverständnisses eine möglichst einwandfreie körperlich-psychische Selbstregulation von allen Menschen ermöglichen, die ihrer natürlichen Potenzialität entspricht. Hierbei spielt Entzerrung von Redundanzen mithilfe von Daten eine tragende Rolle.“

„Wenn wir aktuell über elektronische Patiantenakte sprechen, so denken wir an die effizientere Verwaltung, schnellere Prozesse, weniger Bürokratie. Viele verstehen, dass dadurch auch Diagnostik und Behandlung verbessert werden. Aber denkt jemand auch an Entzeitlichung?“

Diese Überlegung hatten wir in der Folge „Können wir KI kontrollieren – und ist das die richtige Frage?“ unserer Serie „Inside KI“ bereits angesprochen: Daten können praktisch Zeitverdichtung oder sogar Zeitsteuerung bewirken. Als Beispiel nannte Dr. Tsvasman die Entwicklung von Vakzinen. Wenn alle relevanten Gesundheitsdaten seit 30 Jahren lückenlos gespeichert wurden, könne man Szenarien mit KI modellieren, ohne 30 Jahre warten zu müssen – und somit etwa praktische Tests ergänzen. Wenn solche Tests dann nur noch nur wenige Momente dauern und nichts kosten, führen sie de facto zu einer Zeitverdichtung. Damit entfiele dann auch die Motivation etwa für Pharmagiganten, die heute teuren und zeitaufwändigen Tests zu umgehen.

Das globale KI-Subjekt der Zukunft hilft auch, die individuelle Gesundheit jedes Menschen zu verbessern

„Bei alledem“, so resümiert Dr. Tsvasman, „macht KI erst dann wirklich Sinn, wenn sie Menschen in ihrem Effektivitätspotenzial ermöglicht, mehr aus ihrer an intrinsische Motivation und Inspiration gekoppelte Erkenntnisfähigkeit zu machen. Diese Haltung vertrete ich durch alle Bereiche hindurch.“

Im Falle des Gesundheitswesens bedeute dies: „Erfülltere und sinnvoller lebende Menschen sind eher motiviert, ihre eigene Selbstregulation ganzheitlich intakt zu halten. Aber auch laufend dazuzulernen, um verstehen und erkennen zu können, was eine gesunde Lebensweise überhaupt ausmacht.“

Grundlage sei ein in weiterer Zukunft existierendes technisches Bewusstsein des Planeten – Dr. Tsvasman bezeichnet es als „globales KI-Subjekt“. Wie das Zusammenleben zwischen dieser Entwicklungsstufe von KI und dem Menschen aussehen könnte, hat er in unserer Gesprächsreihe „Inside KI“ immer wieder geschildert. Dabei ist Dr. Tsvasman überzeugt: „Einen richtigen Fortschritt wird es mit KI erst geben, wenn das globale KI-Subjekt es lernt, Zivilisationsdesign im Sinn existenzieller Werte von Menschen zu skalieren, es darauf auszurichten.“ So würde die globale KI dann auch jeden einzelnen Menschen darin unterstützen, gesundheitsbewusst zu leben und ganz individuell die besten Voraussetzungen nicht nur für die Realisation seiner Potenzialität, sondern auch für das eigene körperliche Wohlergehen zu schaffen.

 

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