Kann Künstliche Intelligenz schon heute zur Wertschöpfung im wirtschaftlichen Sinn beitragen? Droht sie sich wirklich zum „Jobkiller“ zu entwickeln, wie hin und wieder behauptet wird? Und wer profitiert eigentlich von den per KI erzielten technischen Verbesserungen und Effizienzsteigerungen? Wie könnte schließlich ein „Zusammenleben“ zwischen Mensch und KI aussehen, wenn wir etwas weiter in die Zukunft blicken? In unserer neuen Serie über die Anwendungen und Auswirkungen von KI suchen wir Antworten auf diese Fragen – auch diesmal im Austausch mit dem KI-Experten und Philosophen Dr. Leon R. Tsvasman.
Aufmacherbild: Pixabay, Gerd Altmann
In unserer neuen Serie „360 Grad KI“ wollen wir jeweils einen Bogen spannen: Wie starten im Heute – welche KI-Anwendungen werden in verschiedenen Branchen beziehungsweise in verschiedenem Kontext bereits genutzt? Dann blicken wir aufs Morgen: Wohin entwickeln sich diese Anwendungen, woran wird heute geforscht, um es morgen einsetzen zu können? Und dann wagen wir einen Blick in die etwas entferntere Zukunft: Wie könnte das Zusammenspiel von Künstlicher Intelligenz und dem menschlichen Alltag übermorgen aussehen?
Unser bewährter Gesprächspartner zu diesen Fragen ist Dr. Leon R. Tsvasman, Philosoph, Hochschuldozent, Kommunikations- und Medienwissenschaftler. Er zeigt uns Perspektiven auf, wie sich KI über ihren heute überwiegend prozessorientierten Einsatz hinaus entwickeln könnte – und welche Implikationen diese Entwicklung hätte.
In der vorliegenden Folge wollen wir uns dabei dem Schwerpunkt wirtschaftlicher Wertschöpfung widmen. Denn längst hat auch Künstliche Intelligenz daran einen relevanten Anteil. Umso spannender ist die Frage, wie sich ihr Einfluss auf diesen Bereich über längere Frist verändern könnte.
„Gute“ und „böse“ Mustererkennung
Ihre zunehmend verfeinerten Fähigkeiten zur Mustererkennung stellt KI in der produzierenden Wirtschaft schon heute unter Beweis. Dabei finden sich die Anwendungen oft sowohl im Produktionsprozess (beispielsweise bei der Qualitätsprüfung produzierter Teile durch Bildanalysen oder die Kontrolle unterschiedlicher Messwerte) als auch in den fertigen Produkten: Von den Kameras in Staubsauger-Robotern bis zur Sensoranalyse in hochautomatisiert und zum Teil auch schon autonom fahrenden Autos wird heute KI genutzt. Wobei man mit Blick auf diese Anwendungen technisch präziser von „Machine Learning“ sprechen sollte – also von durch Training ausgeformten neuronalen Netzen, die bei der Mustererkennung zu den gewünschten Ergebnissen führen. Bei alledem entsteht wirtschaftliche Wertschöpfung auf Herstellerseite vor allem durch Qualitäts- und Effizienzsteigerungen. In den Produkten selbst entsteht sie nicht zuletzt jedoch durch neue „smarte“ Funktionalitäten, die bei den Endkunden zum Einsatz kommen.
So sind etwa auch computergestütztes Diktieren (Speech-to-Text) oder computergenerierte Übersetzungen dank Machine Learning in jüngerer Zeit immer leistungsfähiger geworden. Ebenso wäre der Siegeszug digitaler Assistenten von Alexa bis Siri nicht ohne Fortschritte unter anderem bei KI-basierten Sprachanalysen möglich gewesen.
Im industriellen Umfeld ermöglichen Analysen von Betriebsdaten und anderen Faktoren mit Machine Learning beispielsweise die sogenannte prädiktive Wartung – Vorhersagen, wann bestimmte Bauteile mit welcher Wahrscheinlichkeit ausfallen oder wann welcher Grad an Verschleiß erreicht ist.
Die Anwendungsfelder werden zunehmend breiter, und sind nicht immer unumstritten. So liegt technologisch etwa nur eine schmale Grenze zwischen der Unterstützung bei der Restaurierung von Kunstwerken oder dem „intelligenten Auffüllen“ in Bildbearbeitungs-Programmen und weniger „unschuldigen“ Applikationen wie etwa den sogenannten „Deepfakes„, die mittlerweile in manipulierten Videos praktisch jede Person alles tun und sagen lassen können.
Wertschöpfung 2.0: KI generiert Inhalte und macht allerhand Vorhersagen
Ähnlich wie sich das Verhalten von Maschinen prognostizieren lässt, setzen viele Unternehmen auch auf KI-basierte Vorhersagen von Konsumentenverhalten. Wenn solche Anwendungen etwa Produktionsmengen hochrechnen, bekommt sie der Verbraucher im Normalfall gar nicht mit. Wenn sie ihn — beispielsweise durch die berühmten Kaufempfehlungen von Online-Shopping-Diensten – direkt zum Konsum animieren, dagegen durchaus. Schon formiert sich Widerstand gegen die wachsende Macht globaler Datenkonzerne samt ihrer Algorithmen und deren Auswirkungen auf die Gesellschaft.
„Es ist kein Geheimnis, dass die Wirtschaft ihre Werte entlang menschlicher Bedürfnisse schöpft. Die Marketingprämissen der von Defizitmärkten verwöhnten klassischen Industrie gingen davon aus, dass erfolgreiche Unternehmen auch in der Wachstumsphase, wenn Defizitbedürfnisse befriedigt wurden, künstliche Bedürfnisse persuasiv kreieren dürfen oder gar sollen“, kommentiert Dr. Leon R. Tsvasman. „Abgesehen von den Defizitbedürfnissen eines nicht gesättigten Marktes erzeugt auch jede Zwangssituation Bedürfnisse. Wenn man in einem Käfig sitzt, besteht das Hauptbedürfnis darin, ihm zu entkommen. Wenn man in einer auf Auto fixierten urbanen Infrastruktur ohne Auto nicht weit kommt, ist man an ein Auto angewiesen. Dabei ist der Besitz eines Autos an sich kein Bedürfnis. Bedürfnisse im Zusammenhang mit Autos sind vielmehr Mobilität, zeitweise oder schichtspezifisch die Funktion eines Statussymbols – und noch etwas, was bisher nur wenig beschrieben ist: Nämlich unterwegs eine kleine eigene Welt kontrollieren zu können.“
Das hat nach Einschätzung von Dr. Tsvasman Konsequenzen: „Also schöpft eine sicherheitsorientierte und deshalb oft träge und überhebliche Wirtschaftselite am meisten aus Zwangssituationen, indem sie Bedürfnisse aus teilweise selbst initiierten Zwangsräumen konstruiert. Das fördert und zementiert ein völlig verzerrtes Menschenbild, das Annahmen wie ,der Mitarbeiter muss vor allem effizient sein‘ oder ,ohne Zwang sind Menschen faul‘ als selbstverständlich in die Öffentlichkeit setzt und darin pflegt.“
Innovation traditionell oder auf Basis von Big Data?
Gerade die Wertschöpfung aus Big-Data-Analysen steht dabei erst am Anfang. „Insbesondere der Mittelstand erachtet Datenprodukte nach wie vor als riskant“, weiß Dr. Tsvasman. „Denn echte Innovationen gelingen erst mittels Learning by doing. Der Einsatz maßgeschneiderter, trainierbarer KI zu heutigen Marktkonditionen ist immer noch teurer als altbewährte Innovationstechniken.“ Vor allem unter den deutschen Unternehmen vertrauten viele lieber auf ihre vermeintlich noch gut funktionierenden Prozesse und sähen daher keine Notwendigkeit für große Investitionen in KI.
„Forscher versuchen zwar, Wertschöpfungsketten mithilfe von KI zu modellieren“, führt Tsvasman fort. „Doch die größte Herausforderung besteht darin, Datenprodukte für kleine und mittlere Märkte zu entwickeln. Organisatorisch erfordert dies einen kybernetisch fundierten Ansatz für das Daten-Design. Die Abhängigkeit von vorhandenen IoT-Plattformen sollte dabei so gering wie möglich sein, weil sie die Kosten steigert. Technologisch spannend sind deshalb Ansätze, bei denen der Prozess der Entwicklung eines KI-Modells bereits KI-basiert durchgeführt wird – ohne kostspielige Human Data Engineers.“
Schon morgen: Vom Werkzeug zum Konkurrenten?
Damit und mit vielen anderen Beispielen sind die ersten Schritte von KI-basierten Lösungen zur Übernahme von Jobs, die bis dato durch geistig arbeitende Menschen erledigt wurden, längst gemacht. Übersetzer beispielsweise erleben bereits Konkurrenz durch die recht guten Ergebnisse von Maschinen-Übersetzungen wie DeepL. Juristen stellen fest, dass Recherche-Systeme sich oft schon besser in Gesetzestexten auskennen als mancher Anwaltsgehilfe. Schon sorgen sich Journalisten, wann einfachere Texte etwa für News-Meldungen oder Produktvergleiche von KI-Systemen in ebenso hoher Qualität geliefert werden wie „von Hand“ geschriebene Texte.
Die Sorge, dass sich KI vom intelligenten Werkzeug zu einer Konkurrenz für viele heute übliche Tätigkeiten entwickelt, ist also nicht unbegründet. Doch die Folge sollte wohl eher sein, dass der Mensch sich vor allem darauf freuen sollte, sich auf anspruchsvollere Aufgaben konzentrieren zu dürfen. Diese werden in der Regel auch befriedigender sein – so wie Maschinen den Menschen auch von anstrengender und wenig erfüllender körperlicher oder routinierter Arbeit „befreit“ haben.
Dr. Leon Tsvasman: „Aufgewertet wird bei der Wertschöpfung mit KI vor allem die menschliche emotionale Kompetenz, aber auch die Fähigkeit, Zusammenhänge in einem Kontext zu begreifen – ein Bestandteil kritischen Denkens, kreativer Problemlösung, kommunikativer Effektivität, adaptiven Lernens und des fundierten Urteilsvermögens. Es ist nicht nur wenig sinnvoll, sondern aktuell beinahe unmöglich, Expertensysteme so zu programmieren, dass sie diese menschlichen Kompetenzen nachahmen.“
KI entwickelt sich zur Infrastruktur
Auch in der angewandten oder naturwissenschaftlich fundierten Forschung verschwimmen die Grenzen zwischen Werkzeug und „Mitstreiter“ bzw. „Konkurrenz“. Natürlich ist das auch Auslegungssache, wenn etwa Systeme aus Daten neue Regelmäßigkeiten in der Natur – und somit Naturgesetze – ableiten oder mit höchster Trefferquote Proteinfaltungen voraussagen. Hier allerdings überwiegt die Zufriedenheit damit, dass sich viele bislang nicht lösbare Problemstellungen mit der Unterstützung durch KI nun doch allmählich in den Griff bekommen lassen.
Dr. Leon Tsvasman weist noch auf ein anderes Problem bezüglich datengestützter Wertschöpfung hin: „Vor allem die Medienwirtschaft hat erkannt, dass Infrastrukturen unsere Wertschöpfungsmodelle revolutionieren. In der vorindustriellen landwirtschaftlichen Handwerksgesellschaft hat man Wege gebaut, um Güterverkehr zu ermöglichen. Später in der Industriegesellschaft die Stromnetze, um Kraft zu übertragen. Dann kam das Internet, um den Informationsdefiziten der analogen Welt entgegenzuwirken, also Wissen zu entzerren. Und nun kommt KI. Sie ist wie eine neue Elektrizität – der entzerrende ,Optimierungsstrom‘ einer Informationsgesellschaft. Solche Ermöglichungs-Infrastrukturen dürfen aber nicht in exklusivem Besitz sein. Wie etwa Straßenverkehr, Elektrizität oder Internet müssen sie allgemein zugänglich sein.“
Der KI-Experte und Philosoph ist überzeugt, das sich Entscheider in der Wirtschaft bewusst sind, dass die bereits angesprochenen Zwangssituationen aus Zwängen entstanden, die sie selbst mitkreiert haben – oder dies auch weiterhin tun. „Als durchschnittlicher westlicher Manager gestaltet man etwas nur, wenn die Chance besteht, dass man persönlich die Früchte ernten kann oder darf. Übergreifende Konzepte wie Nachhaltigkeit, Ethik oder Zukunftsvisionen haben dann auf der persönlichen Ebene wenig Wert.“
An dieser Stelle zitiert Tsvasman augenzwinkernd John Maynard Keynes: „Praktische Männer, die glauben, von jeglichem intellektuellen Einfluss befreit zu sein, sind normalerweise die Sklaven eines verstorbenen Ökonomen.“
Übermorgen: Unternehmen sollte ihre Philosophien justieren …
„Dabei ist auch im Mainstream-Diskurs angekommen, dass etwa Informatik oder auch Data Science und Deep Learning genauso viel mit KI zu tun hat wie Chemie mit Fotografie. Solange jeder Fotograf mit Chemie vertraut sein musste, war die Aktualität der Fotografie von Chemie geprägt. Vor Jahrzehnten hatten wir eine weniger dichte Aktualität, deren Grundmuster länger anhielten und kein ständiges Umdenken erforderten.“ Auch heute müsse man aber nicht ständig umdenken, wenn man eine fundierte Orientierungshaltung hat, so Tsvasman.
„Unternehmen müssen ihre Philosophien justieren“, rät der Experte. „Wer innovative Konzepte erkennt und Start-ups zu Verbündeten macht, handelt zeitgemäß. Denn die magische Formel ist die digitale Wertschöpfung mit KI oder Digitale Transformation. Sie geht allerdings nur mit einer Erneuerung der Bildung auf, damit systemisches Denken und Kreativität sich zu Kernkompetenzen entwickeln.“ Personalverantwortliche sollten nicht mehr standardisierte oder idealtypische Kompetenzprofile aufstellen, sondern sich auf die aktive Suche realer Menschen mit einmaligen Biografien und Potenzialen fokussieren. Das treffe auf fast jedes Unternehmen zu und beschreibe eine ganz neue Strategie.
… und die Welt sich auf eine Mensch-KI-Intersubjektivität einstellen
Die Begründung seit nicht nur humanistisch oder ethisch fundiert, sondern auch ganz pragmatisch: „Die meisten ausgeschriebenen Stellen sind ein aufwändiger und faktisch überflüssiger Umweg auf dem Weg zur agilen und skalierbaren Wertschöpfung, die mit realen Potenzialen arbeiten muss. Und ohnehin ist es höchste Zeit, Abstand zu nehmen von ,Bullshit-Jobs‘ – ein Begriff von David Graeber – und Jobs, bei denen nur Spezialisierungsgrad, Verantwortung und Fleiß zählen, um sich dem wahren Schatz menschlicher Ressource zuzuwenden.“
„Wenn diese Hausaufgaben für Morgen nicht erledigt ist, gehen die Chancen und schöne Aussichten fürs Übermorgen auch nicht auf“, sagt Dr. Tsvasman weiter. Deshalb und aus vielen weiteren Gründen sehe er als möglichen Ausweg die von ihm beschriebene Mensch-KI-Intersubjektivität. „Dann würde das technische Gehirn der Welt dafür sorgen, dass alle Effizienzprozesse selbstregulativ ablaufen und dass sich die technischen Umweltparameter entlang der menschlichen Potenzialität skalieren lassen. Damit könnten wir das Gleichgewicht mit der Natur wieder herstellen und eine fast magische Welt bekommen, in der wir als wirklich erkennende vernünftige Wesen echten Lebenssinn, also Erkenntnis, anstelle von künstlicher Sinngebung wie Konsum bekommen.“