Eltern sollten ihren Kinderarzt unbedingt nach „PädExpert“ fragen. Im Test- und Pilotgebiet Bayern schon jetzt – und deutschlandweit ab Sommer 2016. Das Telemedizin-System ermöglicht die beste medizinische Behandlung fürs Kind – unabhängig vom Wohnort und den dort verfügbaren Ärzten. Immer wenn eine zweite Meinung gefragt ist, können sich Kinder- und Jugendärzte online Rat von einem Fachkollegen holen. Die Erfahrungen aus der Pilotphase waren überaus positiv: Wartezeiten, Anfahrtswege und Krankenhausaufenthalte lassen sich deutlich reduzieren. Zwei Beispiele zeigen, wie sehr die jungen Patienten von dem System profitieren.
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Gerade zur Welt gekommen, machte ein Junge im vergangenen Jahr die Ärzte in der Münchner Klinik zuerst sprachlos und anschließend vorschnell erleichtert – denn die dicke rötliche Ausbuchtung auf seiner Nasenwurzel sah nach einer harmlosen Hautgeschwulst aus. Zum Glück wollte der danach behandelnde Kinderarzt auf Nummer sicher gehen: Er holte sich Expertise „aus der Ferne“ bei einem Fachmediziner, der schließlich bei dem Säugling einen seltenen Tumor attestierte. Am Ende konnte dieser erfolgreich operiert werden.
Ein anderes Beispiel ist eine 16-Jährige aus dem bayerischen Weyarn, die sich immer schwächer fühlte. Den fürchterlichen Verdacht auf Leukämie konnte ihr Kinderarzt ausräumen – mit Hilfe eines Hämatologen in 60 Kilometern Entfernung.
Die „BILD am Sonntag“ berichtete über den Fall und schwärmte vom Telemedizin-System „PädExpert“, das sich drei Pädiater (Kinderheilkundler) haben einfallen lassen, darunter Dr. Martin Lang:
„Warum bauen wir nicht ein Krankenhaus ohne Wände? Wir spielen sozusagen Krankenhaus. Das heißt, einer nimmt den Fall auf, stellt ihn dar, und dann wird überlegt, welche Spezialisten holen wir zur Behandlung, zum Behandlungsfall dazu.“ (Martin Lang im Deutschlandfunk)
Damit hat der Kinderarzt aus Augsburg das Wichtigste schon gesagt: Gemeinsam mit seinen Kollegen Otto Laub aus Rosenheim und Wolfgang Landendörfer aus Nürnberg hat er das System entwickelt und drei Jahre lang getestet. PädExpert ist eine Art „medizinisches Skype“ mit integriertem Anamnese-Formular und stellt den Kontakt zwischen Kinder-Fachärzten her, denn die Pädiatrie ist breit gefächert und patientenbezogene Fachberatung (= „Konsil“) immer stärker gefragt.
Verbessern lässt sich so vor allem die medizinische Versorgung von Kindern und Jugendlichen, die seltene oder chronische Krankheiten haben. Das System verbessert Schnelligkeit und der Effizienz, weil Anfahrtswege und unnötige Krankenhaus-Aufenthalte entfallen. Und es stärkt die medizinische Versorgung – nicht nur als Gegenmaßnahme zu Fachärztemangel auf dem Land, sondern auch in Ballungsgebieten, wo man oftmals lang auf einen Facharzttermin warten muss.
Dieses „telemedizinische Konsiliararztsystem“ bieten der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) und die BARMER GEK als erste Krankenkasse seit Januar an – zunächst in Bayern und ab Sommer nach und nach in weiteren Bundesländern. Eine Kurzpräsentation stellt das System ausführlicher vor.
Der digitale Assistent macht den Fachmediziner noch schlauer
„Wer mehrfach mit dem Programm gearbeitet hat, der versteht viel besser, wie Schwerpunkt-Pädiater einen unklaren Fall eingrenzen“, erklärt Martin Lang, der auch Landesvorsitzender des BVKJ in Bayern ist. „Über das System werden auch medizinische Daten abgefragt, die vielleicht bisher gar nicht erhoben wurden. So ist die Teilnahme an diesem System auch eine Art permanente Fortbildung, die die Kompetenz der teilnehmenden Ärzte deutlich erhöht.“
Bisher sind Expertenkonsile aus den Bereichen Kinderrheumatologie, -hämatologie, -gastroenterologie, -pneumologie und einigen Stoffwechselerkrankungen erarbeitet worden, doch in Zukunft soll die Themenauswahl weiter ausgebaut werden. Auch mit weiteren Krankenkassen laufen Verhandlungen, um PädExpert als festen Bestandteil der Versorgung zu etablieren.
So läuft eine Experten-Session ab
Im folgenden zweiminütigen Video erklärt Martin Lang, wann und wie die Idee für das System entstanden ist. Technisch wurde PädExpert vom Dienstleister Monks Vertriebsgesellschaft in München umgesetzt. Auch der Ablauf einer Anamnese wird „im Schnelldurchlauf“ gezeigt.
Ein wichtiges Kriterium war auch die Datensicherheit: Bei der Übertragung von Anfragen von einem Arzt zum anderen werden die persönlichen Daten des Patienten von den medizinischen Daten vor der verschlüsselten Übertragung getrennt und auf verschiedenen physikalischen Servern in Deutschland gespeichert.
Kinderärzte sind immer auf dem höchsten medizinischen Stand
Tatsächlich ist PädExpert die erste flächendeckende Anwendung in Deutschland, die haus- und fachärztlich tätige Ärzte miteinander vernetzt, um Patienten mit chronischen oder seltenen Erkrankungen schneller eine Diagnose oder geeignete Therapie zukommen zu lassen. Gerade in ländlichen Regionen sind Kinder- und Jugendärzte mit zusätzlicher Fachqualifikation äußerst selten. Alle Nutzer von PädExpert sind damit immer auf dem höchsten medizinischen Behandlungsstand.
„PädExpert ist ein vorbildliches Beispiel dafür, was Telemedizin heute leisten kann.“ (Mani Rafii, Vorstandsmitglied der BARMER GEK)
Pilotphase endet im Sommer
Jetzt muss es nur noch im gesamten Land Akzeptanz finden. Ab dem 1. Juli ist es so weit: Dann erfolgt die bundesweite Freischaltung.
Bis dahin läuft noch die Pilotphase in Bayern. Kinder- und Jugendärzte, die hier zugelassen sind und PädExpert nutzen wollen, müssen über einen Zugang zu PädInform (passwortgeschütztes Intranet für Kinder- und Jugendärzte) und über eine Homepage bei Kinderaerzte-im-Netz.de verfügen. Natürlich wird auch mindestens ein Arbeitsplatz mit Internetverbindung in der Praxis vorausgesetzt.
Auch die Krankenkasse muss „mitspielen“. Bisher macht nur die BARMER mit. Sie bietet Ärzten die Nutzung von PädExpert im Rahmen ihres Kinder- und Jugend-Programms („KJP“) an, an dem mehr als 470.000 Kinder und Jugendliche sowie 95 Prozent aller niedergelassenen Kinderärzte teilnehmen.
Tipp für Pädiater in der Region München: PaedNetz, ein Zusammenschluss von gut 100 Münchner Kinder- und Jugendarztpraxen, bietet Seminare mit praktischen Übungen an.
And the winner is … zwei von drei Kindern!
Während der Testphase hat das System eindrucksvolle Ergebnisse geliefert: In 63 Prozent der übermittelten Fälle konnten die Fachärzte eine Online-Diagnose erstellen. Die Diagnostikphase verkürzte sich im Schnitt um 16 Tage und im Bereich der Hämatologie sogar um mehr als 30 Tage. Zwei von drei Heranwachsenden mussten nicht mehr persönlich zum Spezialisten gehen. Da ist es kein Wunder, dass die Initiatoren für ihr Engagement mit dem Bayerischen Gesundheitspreis 2014 ausgezeichnet wurden.