Schon seit vielen Jahren sorgt die Digitalisierung im Gesundheitswesen für mehr Effizienz, schnellere Früherkennung, bessere Versorgung und damit letztlich für die Erhaltung der Gesundheit. Doch im Jahr der Coronakrise hilft sie mehr denn je dabei, Leben zu retten. Dass Not erfinderisch macht und neue Innovationen erschafft, beweisen zahlreiche medizinische Anwendungen mit Künstlicher Intelligenz und Big Data. Doch auch über Covid-19 hinaus versprechen spannende digitale Entwicklungen spürbare Verbesserungen im Gesundheitswesen.
Autor: René Wagner; Quelle des Aufmacherbildes: Pixabay.com / Collage
Viel ist in diesen Tagen die Rede über „Corona-Apps“, die die Nachverfolgung von Kontaktfällen besser überprüfbar machen sollen. Aktuell arbeiten 130 Wissenschaftler verschiedener Forschungsinstitute und Unternehmen aus acht europäischen Ländern an der Plattform PEPP-PT (Pan-European Privacy-Preserving Proximity Tracing). An der Entwicklung beteiligt sind unter anderem die Fraunhofer Institute HHI (Heinrich-Hertz-Institut), IIS ( Integrierte Schaltungen) und AISEC (Angewandte und Integrierte Sicherheit), die ETH Zürich, die TU Dresden, die Universität Erfurt und viele weitere. PEPP-PT soll die Basis für Smartphone-Apps bereitstellen, die den Benutzer warnen, wenn er Kontakt zu einem bestätigten SARS-CoV-2-Infizierten hatte.
PEPP-PT: Übergreifende Plattform für Corona-Warn-Apps
Nach Ostern sollen erste Apps zum Download zur Verfügung stehen, die auf PEPP-PT basieren. Der Vorteil: Auch wenn es mehrere Apps gibt, teilen sie sich alle dieselbe Daten-Plattform. Sofern dann mindestens 60 Prozent der Bevölkerung eine der teilnehmenden Apps auf ihrem Smartphone installiert haben, dürfte die App deutlich zur Reduktion der weitere Ausbreitung des neuen Coronavirus beitragen. Die Initiative setzt auf die Bereitschaft der Smartphone-Nutzer, die App freiwillig zu installieren, und verweist auf hohen Datenschutz – die App erstellt keine Bewegungsprofile, die Nutzer bleiben anonym.
Eine andere Anti-Corona-App wurde bereits vom österreichischen Roten Kreuz veröffentlicht: Wer „Stopp Corona“ nutzt, kann seine Begegnungen mit Freunden, Familie oder im Beruf eigenständig festhalten und beim Auftreten von Symptomen oder beim Verdacht einer Erkrankung anonymisiert benachrichtigen. Dann liegt es an den benachrichtigten Kontakten, angemessen zu reagieren, etwa indem sie sich in Quarantäne begeben.
App klassifiziert Ansteckungsgefahr für Regionen
Auch bei der App „COVID-19-Radar“ müssen so viele User wie möglich mitmachen, damit das Ziel erreicht wird – in diesem Anwendungsfall jedoch ein anderes: Das Münchner Start-up Open as App will einen flächendeckenden Shutdown verhindern, indem Straßen und Gebiete identifiziert werden, wo es keine Ansteckungsgefahr mehr gibt.
Während die bisherige Messung in Deutschland nur auf Bundesland- oder Landkreis-Ebene läuft und damit viel zu grob ist, um Schutzmaßnahmen eventuell zu lockern, will das Start-up die nähere Umgebung des Nutzers beleuchten und so Corona-Hotspots im eigenen Viertel aufzeigen.
„Unsere App soll helfen, Orte und Straßen zu finden, in denen die Behörden die Bewegungseinschränkungen zurücknehmen können.“ (Mathias Reidel, Geschäftsführer von Open as App)
Auch hier setzt die Messung auf Freiwilligkeit: Wer die App auf seinem Smartphone installiert hat, trägt seinen Gesundheitszustand in Form von Ampelfarben ein und kann sich sein Umfeld auf einer Karte anschauen. Zusätzlich fließen auch Infektionszahlen des Robert-Koch-Instituts und der Gesundheitsämter ein.
Online-Karte zeigt Coronavirus-Ausbreitung in Echtzeit
Was man mit einer Menge an anonymisierten Daten im positiven Sinne anstellen kann, zeigt in diesen Tagen der US-Hersteller Kinsa Health, der smarte Fieberthermometer in Stückzahlen von bereits über einer Million in den USA auf den Markt gebracht hat. Nehmen die Anwender eine Temperaturmessung vor, werden die Daten aggregiert und anonymisiert an Kinsa übertragen. So weiß die Firma als erste, wo eine Häufung von Fieberfällen auftritt.
Tatsächlich hat das Unternehmen die Ausbreitung der jährlichen Grippewelle in den vergangenen Jahren jeweils zwei Wochen vor der US-Gesundheitsbehörde CDC vorhergesagt, berichtet die „New York Times“.
Kinsa hat dazu in Zusammenarbeit mit der Oregon State University eine Online-Karte entwickelt, die für jede Kommune (County) der USA tagesaktuell anzeigt, wie viele Fieberfälle das Unternehmen ermittelt hat. Außerdem werden die Fälle in Relation zu den Vorjahren gesetzt („atypical“). Der Screenshot oben zeigt den Stand vom 4. April 2020.
Bei einer ungewöhnlichen Häufung von Fiebertemperaturen ist der Verdacht einer SARS-CoV-2-Ausbreitung nicht unbegründet. Sogar die Auswirkung der Schutzmaßnahmen ist bereits jetzt an der Karte ablesbar. Kinsa hofft, mit den Daten und der Karte die Ausbreitung des Coronavirus nahezu in Echtzeit darstellen zu können.
Webseite berechnet Überlebenschancen
„Will coronavirus kill me?“ So heißt ein Online-Rechner, der die Überlebenschancen des Nutzers bei einer möglichen Covid-19-Erkrankung errechnet. Dazu fragt die Webseite individuelle Faktoren ab – Alter, Vorerkrankungen, Hygiene, Geschlecht – und ermittelt daraus die Wahrscheinlichkeit eines Todes durch Covid-19.
Ziel des Programmierers Ben Albahari aus London ist es, den Menschen die Angst zu nehmen, da nicht jeder dem gleichen Risiko unterliegt. Stellt man zum Beispiel alle Faktoren auf den Durchschnittswert ein, würde die Wahrscheinlichkeit bei 1:10086 liegen.
Anwendungen mit Künstlicher Intelligenz
Zwei Forscher der Universität von Waterloo und der KI-Firma DarwinAI haben eine Künstliche Intelligenz entwickelt, die Ausprägungen der Covid-19-Erkrankung möglichst früh auf Röntgenaufnahmen erkennen soll. „In frühen Studien wurde festgestellt, dass Patienten verschiedene Anomalien in Bruströntgenbildern aufzeigen“, schreiben die Forscher in ihrem Fachbeitrag. Sie trainierten die KI mit tausenden Aufnahmen der Brust- und Lungenbereiche bei verschiedenen Lungenerkrankungen.
Die Zahl der Aufnahmen für das Training der KI reicht jedoch bei weitem noch nicht aus, weshalb die Forscher ihre Software namens COVID-Net samt ihrer bisherigen Bildersammlung als Open Source freigegeben haben. Umgekehrt wünschen sie sich, dass auch andere Forscher und Ärzte Röntgenaufnahmen beitragen, um die Weiterentwicklung dieser Software sowie auch anderer KI-Projekte zur Früherkennung von Krankheiten zu unterstützen.
Doch die Liste innovativer Anwendungen im Gesundheitswesen, die durch die fortschreitende Digitalisierung möglich werden, wächst auch abgesehen von Covid-19 immer weiter.
Zum Beispiel haben Forscher mittels Künstlicher Intelligenz ein „Brain-to-Text-System“ entwickelt, das mit bislang unerreichter Genauigkeit Hirnsignale auslesen und in Wörter übersetzen kann. Dies wäre eine unglaubliche Hilfe für Patienten, die nicht sprechen können. Bisherige Systeme schaffen Vergleichbares mit nicht einmal 100 Wörtern, und das bei einer relativ hohen Fehlerrate von 25 Prozent. Anders beim System des Forscherteams der University of California in San Francisco: 250 Wörter werden mit einer Fehlerrate von nur 3 Prozent äußerst präzise erkannt. Aktuell arbeiten die Forscher an einer deutlichen Ausweitung des Wortschatzes.
Überhaupt gibt es einen regelrechten Boom von Softwarelösungen, die mittels KI große Mengen an Gesundheitsdaten analysieren und dabei Muster erkennen. Sie sind neben robotergestützten Verfahren, die als Assistenzsysteme im Operationssaal und in der Pflege genutzt werden (die Intelligente Welt berichtet hier darüber), eines der großen Wachstumsfelder in Medizintechnik und Gesundheitswesen.
Digitalisierung im Gesundheitswesen: Andere Länder sind schon viel weiter
An alltäglichere Beispiele wie die elektronische Krankenakte haben wir uns hingegen längst gewöhnt, ebenso an das Erfassen von Gesundheitsdaten über Smartphone-Apps, und auch Telemedizin in Form von Video-Sprechstunden erlebt eine gewisse Verbreitung. Zwar ging es in Deutschland schon früh los mit digitalen Anwendungen im Gesundheitswesen (die elektronische Gesundheitskarte gibt es schon seit 2003), und zahlreiche Pilotprojekte auf regionaler Ebene beweisen die Innovationsfreudigkeit – doch im bundesweiten Alltag sind viele der neuen technologischen Möglichkeiten noch nicht angekommen.
„Die Politik hat in der Vergangenheit die Verantwortung für die digitale Transformation an die Selbstverwaltung im Gesundheitswesen delegiert. Hier haben sich die Akteure lange Zeit gegenseitig blockiert. Es ist noch nicht gelungen, alle Verantwortlichen hinter einem gemeinsamen Ziel zu versammeln.“ (Thomas Kostera, Gesundheitsexperte der Bertelsmann Stiftung)
In Ländern, die im Digital-Health-Index 2018 der Bertelsmann Stiftung ganz vorne rangieren – wie etwa Estland, Kanada oder Dänemark –, sind moderne digitale Technologien bereits Alltag in Praxen und Kliniken. Hier sind die digitale Übermittlung von Rezepten, die Speicherung wichtiger Gesundheitsdaten in E-Akten und auch der Zugriff darauf durch Ärzte und Kliniken völlig normal.
Die Bertelsmann-Studie berichtet: „In Estland und Dänemark können alle Bürger die Ergebnisse ihrer Untersuchungen, Medikationspläne oder Impfdaten online einsehen. Zugriffsmöglichkeiten für Ärzte und andere Gesundheitsberufe können sie selbst verwalten. In Israel und Kanada sind Ferndiagnosen und Fernbehandlungen per Video selbstverständlicher Teil der Gesundheitsversorgung. Mediziner in Israel beispielsweise setzen systematisch künstliche Intelligenz zur Früherkennung von Krebserkrankungen ein.“
E-Rezept soll 2022 verbindlich werden
Umso größer war die Überraschung Anfang April, als das Bundesgesundheitsministerium einen überarbeiteten Entwurf für das „Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung (GSAV)“ in den Bundestag einbrachte. Der Entwurf sieht nicht nur Neuregelungen zum digitalen Überweisungsschein vor, sondern auch eine Verpflichtung (!) zum E-Rezept. Die Einführung beginnt 2020 – und schon ab 2022 soll es nur noch elektronische Rezepte geben, die die alte Papiervariante überflüssig machen.
Die Kommunikation soll über eine eigene App laufen, die auch die Weiterleitung an Vor-Ort- oder Online-Apotheken zulässt. Zudem soll es auch möglich sein, mit einem Ausdruck der Zugriffsdaten für das E-Rezept in die Apotheke zu gehen und ihn dort abscannen zu lassen.
Aktion #MedienEhrenamt
Übrigens, doch noch mal zurück zum Thema Coronakrise: Auch die Intelligente Welt hat sich Gedanken gemacht, was Medienschaffende tun können in Zeiten von Corona. Die Antwort ist klar: unsere Kompetenzen und Möglichkeiten verfügbar zu machen. Unsere Kreativität. Und das vor allem, um Gemeinden, Vereine und kleinere Institutionen zu unterstützen, die keine Pressestelle und keine Kommunikationsabteilung haben.
Mitmachen ist einfach – wir freuen uns über jede Unterstützung: https://intelligente-welt.de/medienehrenamt/