IAA Nutzfahrzeuge 2016: Autonom fahrende Lkw sind längst Realität

Der Truck rangiert wie von Geisterhand auf dem Verladehof, fährt zügig rückwärts und kommt millimetergenau an der Laderampe zum Stillstand. Live zu sehen auf der IAA Nutzfahrzeuge, die vom 22. bis 29. September in Hannover stattfindet. Und keine Simulation – das System ist voll einsatzfähig. Da auf öffentlichen Straßen noch die gesetzlichen Voraussetzungen fehlen, wird autonomes Fahren seine Premieren wohl auf Betriebsgeländen und anderen privaten Arealen feiern. Aber auch andere Neuheiten auf der Nutzfahrzeugmesse weisen klar in Richtung automatisiertes und autonomes Fahren.

Darin unterscheidet sich die in Hannover ausstellende Nutzfahrzeugbranche kaum von den im letzten Jahr in Frankfurt präsentierten Pkw-Neuheiten: Eine schnelle Evolution von Assistenzsystemen führt zum Fernziel autonomes Fahren. Schon heute sind aktuelle Lastkraftwagen mit Systemen wie Spurhalte- und zum Teil auch Spurwechselassistenten ausgestattet. Ein vorausschauender Notbremsassistent ist für neu zugelassene Lkw seit November 2015 sogar gesetzlich vorgeschrieben. Er warnt Kraftfahrer vor kritischen Situationen im Frontbereich und leitet wenn nötig selbstständig eine Notbremsung ein. Und weil dafür ohnehin Sensorik wie Kameras und Lidar/Radar erforderlich ist, ist es für die Hersteller nur noch ein kleiner Schritt, die Nutzfahrzeuge auch gleich mit einem Abstandsregeltempomaten auszustatten.

Prof. Dr. Karlheinz Schmidt, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes Güterkraftverkehr Logistik BGL im Gespräch mit der Intelligenten Welt.

Prof. Dr. Karlheinz Schmidt, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes Güterkraftverkehr Logistik BGL im Gespräch mit der Intelligenten Welt.

Allerdings mahnt in einem Interview mit uns Prof. Dr. Karlheinz Schmidt, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes Güterkraftverkehr Logistik BGL an, dass sich die Logistik-Branche von den Herstellern wünschen würde, Innovationen schneller in die aktuellen Fahrzeuge zu bringen. Im folgenden Video weist er darauf hin, dass sich so zum Beispiel viele Verkehrstote vermeiden ließen – und beklagt, dass auf der IAA 2016 nur ein Fahrzeughersteller (nämlich Mercedes-Benz) einen Abbiegeassistenten in seinen Messeneuheiten einbaut.

Mehr Effizienz durch vernetzte Nutzfahrzeuge

Eine klare Zielsetzung bei Nutzfahrzeugen ist die Reduktion des Kraftstoffverbrauchs und somit auch der CO2-Emissionen. Dafür sind schon heute clevere Lösungen im Markt erhältlich: Beispielsweise können Effizienzassistenten, die exakte Daten zum Streckenverlauf wie Steigungen, Kurvenradien und Spurverläufe haben und auf Basis dieser Information Automatikgetriebe und Motorelektronik steuern, den Spritverbrauch schon heute um rund 3 Prozent senken. Werden durch Vernetzung noch weitere Daten zur Verkehrsaufkommen und -behinderungen hinzugefügt, lässt sich die Einsparung noch steigern.

Vieles ist selbstverständlich auch in den auf der IAA präsentierten und zum Teil neu vorgestellten Trucks eingebaut oder als Option erhältlich. Doch die Konzepte und Innovationen der Hersteller gehen noch viel weiter.

So ist eines der großen Themen auf der diesjährigen Nutzfahrzeugmesse das „Platooning“ – das automatisierte Kolonnenfahren. Entsprechende Konzepte und weitgehend einsatzbereite Systeme zeigen alle großen Systemlieferanten von Bosch über Continental bis ZF, sowie auch Fahrzeughersteller wie Mercedes-Benz, MAN, Scania oder Volvo.

Platooning – das automatisierte Kolonnenfahren – soll dazu beitragen, den Kraftstoffverbrauch von Lastkraftwagen zu senken.
Platooning – das automatisierte Kolonnenfahren – soll dazu beitragen, den Kraftstoffverbrauch von Lastkraftwagen zu senken.

Mehrere Lkws folgen dabei in nur 7 bis maximal 15 Metern Abstand einem Führungsfahrzeug. Dies reduziert den aerodynamischen Widerstand und führt so zu Verbrauchssenkungen vor allem für die Folgefahrzeuge – durch den vermiedenen Strömungsabriss in geringem Maße aber auch für das Führungsfahrzeug. Voraussetzung ist allerdings, dass die Fahrzeuge über ihre Sensorik den Abstand halten und sich dabei über Fahrzeug-zu-Fahrzeug-Kommunikation permanent gegenseitig informieren und regeln.

Matthias Wissmann, Präsident des Verbandes der Automobilindustrie (VDA), betonte auf der Eröffnungsfeier IAA Nutzfahrzeuge 2016: „Mit dem elektronisch gekoppelten Kolonnenfahren auf der Autobahn lassen sich bis zu 10 Prozent Kraftstoff und CO2-Emissionen einsparen.“

Dr. Gerhard Schulz, Leiter der Abteilung Grundsatzangelegenheiten im Bundesverkehrsministerium, beim Symposium „Ausbildung in der Transport-und Logistikbranche“.
Dr. Gerhard Schulz, Leiter der Abteilung Grundsatzangelegenheiten im Bundesverkehrsministerium, beim Symposium „Ausbildung in der Transport-und Logistikbranche“.

Dr. Gerhard Schulz, Leiter der Abteilung Grundsatzangelegenheiten im Bundesverkehrsministerium zeigte sich während der Messe bei einem Symposium mit dem Titel „Ausbildung in der Transport-und Logistikbranche“ beeindruckt von dieser Technologie, die er erst vor wenigen Wochen selbst und live erleben durfte: „Es ist beeindruckend, wenn sich die Fahrzeuge hier annähern und so eine Kette bilden. Aber natürlich werfen solche Lösungen auch Fragen auf.“ Sie reichen vom praktischen Fahren im Alltag gerade auch für andere Verkehrsteilnehmer bis hin zur Frage der Finanzierung und somit der Geschäftsmodelle.

Gerade über letztere wird in der Branche bereits intensiv diskutiert. Dabei gehen die Ideen in die Richtung, dass die Folgefahrzeuge, die durch das Platooning Sprit und somit bares Geld sparen eine Gebühr (pro Kilometer, pro Minute oder pro Liter eingespartem Kraftstoff) entrichten, die sich dann der Betreiber der Vermittlungsplattform und der Halter beziehungsweise Auftraggeber des Führungsfahrzeugs teilen. „Für den Spediteur ist natürlich entscheidend, dass sich das Ganze rechnet“ sagt Eckehart Rotter, Pressechef des Verbands der Automobilindustrie VDA. „Die Digitalisierung bringt hier enorme Vorteile und bringt Mehrwerte für die Unternehmen.“

Als wir im Vorfeld unsere Leser und Facebook-Nutzer fragten, welche Themen sie besonders interessieren, wurde häufig nach Infrastruktur-Voraussetzungen und Kommunikationsstandards gefragt. Weitgehende Einigkeit herrscht in der Branche darüber, dass die Kommunikation zwischen den Kolonnenteilnehmern nicht über ein Mobilfunknetz, sondern per Direktverbindung zum Beispiel über den Automotive-WLAN-Standard 802.11p erfolgen soll.

Auch wenn die Technik weitgehend einsatzbereit ist, müssen vor einer Einführung auf jeden Fall noch die gesetzlichen Rahmenbedingungen geschaffen werden – und das liegt in Europa in der Zuständigkeit der einzelnen Länder. In Deutschland ist etwa ein Mindestabstand von 50 Metern zwischen zwei Lkw vorgeschrieben. Dass die Fahrzeuge diesen Abstand computergesteuert auf wenige Meter verringern, ist bisher schlicht verboten.

Konzept, Technik und Nutzen von Platooning erklärt uns im folgenden Video Jörg Lützner, Innovationsexperte bei Continental:

Was machen die Fahrer während des Platoonings?

Bislang nur in Teilen beantwortet ist die Frage, was die Fahrer der Folgefahrzeuge eigentlich während der automatisierten Kolonnenfahrt tun sollen. In manchen Messedemos ist zu sehen, wie sie sich in dieser Zeit Dispositionsaufgaben widmen – allerdings wird dies zumindest heute in der Regel eher von zentralen Disponenten erledigt, sodass solche Aktivitäten während des automatisierten Folgefahrens zumindest fraglich sind. Möglicherweise werden in Zukunft auch die Vorschriften für Lenk- und Ruhezeiten an die technische Entwicklung angepasst. Ein Denkansatz ist hier beispielsweise, dass bei den Lenkzeiten der Kraftfahrer künftig zwischen aktivem und passivem Fahren unterschieden wird. Auch bei diesen Fragen ist nicht zuletzt der Gesetzgeber gefragt.

Gerhard Grünig, Chefredakteur der Fachmagazine Verkehrsrundschau und Trucker, stellt sich die Zukunft noch mal etwas anders vor: „Ich erwarte, dass die Fahrer vor der Einreihung des Lkw in einen Platoon aussteigen beziehungsweise wieder zusteigen, wenn sich die Kolonne auflöst.“ Dies würde allerdings voraussetzen, dass die automatisierte Kolonne auf einem Rastplatz anhält oder die einzelnen Trucks nach Auflösen des Platoons gar für kurze Zeit vollautomatisiert den nächsten Rastplatz ansteuern.

Gerhard Grünig, Chefredakteur der Fachmagazine Verkehrsrundschau und Trucker, erläuterte der Intelligenten Welt Hintergründe zum Nutzfahrzeug- und Logistik-Markt.
Gerhard Grünig, Chefredakteur der Fachmagazine Verkehrsrundschau und Trucker, erläuterte der Intelligenten Welt Hintergründe zum Nutzfahrzeug- und Logistik-Markt.

Allerdings betont Grünig auch, dass Digitalisierung und Vernetzung und die Entwicklung zum autonom fahrenden Lkw von der Transportbranche durchaus gewollt und stark nachgefragt sind. Die Motivation dafür ist nicht zuletzt der sich abzeichnende Mangel an Berufskraftfahrern: Pro Jahr verliert die Branche derzeit 30.000 bis 35.000 Fahrer, die in den Ruhestand gehen. Dem stehen rund 18.000 Berufseinsteiger gegenüber, die für den Güterverkehr ausgebildet werden. So ergibt sich ein nicht gedeckter Bedarf von rund 15.000 Fahrern pro Jahr – wobei die vergleichsweise hohe Abbrecherquote in diesem Ausbildungsbereich noch gar nicht berücksichtigt ist:

Doch die Veränderungen in der Branche bringen auch neue Chancen für Berufseinsteiger, wie etwa Dorothee Bär, Parlamentarische Staatssekretärin im Verkehrsministerium (BMVI) schon im Vorfeld der Messe ausführte: „Der Berufskraftfahrer von heute muss extrem aufgeschlossen und flexibel sein. Er darf aber auch vor Neuerungen keine Angst haben. Denn es ist heute nicht mehr so, dass man einen Beruf einmal lernt und ihn dann Jahrzehnte ausübt. Manchmal kommen sogar mehrmals pro Jahr Neuerungen hinzu.“

Autonomes Fahren beginnt auf dem Verladehof

Auch wenn die Rechtslage hochautomatisierte Trucks auf öffentlichen Straßen derzeit noch nicht erlaubt, könnte das autonome Fahren sich eventuell schon bald auf Verladehöfen und Firmengeländen etablieren. So präsentieren Zulieferer und Hersteller auf der diesjährigen IAA Lösungen unter Schlagworten wie „Autonomous Yard Maneuvering“ oder „Rangierassistenten“ Lösungen für automatisiertes Rangieren an die Laderampe. Die Systeme haben sich aus den für Lkw-Fahrer ohnehin sehr hilfreichen Rückfahrt- und Rundumsicht-Assistenten weiterentwickelt, die mit Hilfe von Ultraschall-, Radar- und Kamerasensoren beim Rückwärtsrangieren vor möglichen Kollisionen warnen beziehungsweise dem Fahrer mehr Ein- und Überblick bieten.

Auf dem Messegelände wurden bereits komplett selbstständig manövrierende Nutzfahrzeuge live vorgeführt. Der Fahrer kann nach der Ankunft am Ziel den Lastwagen verlassen und beispielsweise seine Pause antreten, während der ab diesem Zeitpunkt autonom fahrende Lkw auf die Zuweisung eines Platzes an der Laderampe wartet, anschließend komplett fahrerlos dorthin rangiert und das Fahrzeug fürs Abladen seiner Ladung und gegebenenfalls Beladen der nächsten Fracht bereitstellt.

Messestar Autonomer Bus

Einen weiteren prominenten Auftritt feiert das autonome Fahren beim Personentransport. So war einer der Stars auf der IAA Daimlers „Future Bus“ – der teilautonom fahrende Bus, der in Amsterdam bereits im realen Einsatz zwischen dem Stadtzentrum und dem Flughafen Schiphol ist.

Aus Sicherheitserwägungen und rechtlichen Gründen sitzt zwar noch ein Fahrer hinterm Lenkrad, doch dank Kommunikation mit Ampelanlagen und aufwendiger Sensorik, kann der Bus bereits selbstständig auf der kurven- und tunnelreichen Strecke fahren.

Hier ein 360 Grad Blick in sein Cockpit:

Post from RICOH THETA. – Spherical Image – RICOH THETA

Zu den Fragen unserer Leser zählte auch: Wann werden Busse völlig autonom, also ohne Fahrer unterwegs sein? Wie das Beispiel Future Bus zeigt, ist dies zumindest bei entsprechender Ausstattung der Routen mittlerweile eher eine Frage der Gesetzgebung und Rahmenbedingungen als ein technisches Problem.

Arno Prüllage aus der Abteilung Versuch Elektrik/ Elektronik bei Daimler Buses, weist darauf hin, dass das hochautomatisierte Fahren auch zu höherem Komfort für die Passagiere führt: „Wenn der Bus gleichmäßig beschleunigt und sanft bremst, ist dies gerade auch für die Insassen ein großer Vorteil – bis hin zu der Konsequenz, dass wir Stürze und ähnliches vermeiden können, die in konventionellen Bussen durch abrupte Bremsungen vorkommen können.“

Die Sicherheit von Berufskraftfahrern und anderen Verkehrsteilnehmern steht auch bei anderen Innovationen im Zentrum, die auf der IAA vorgestellt werden. Den eingangs bereits erwähnten Abbiegeassistenten zeigen die Zulieferer Continental, Knorr-Bremse und ZF zum Beispiel Abbiegeassistenten – und bieten somit Fahrzeugherstellern die Möglichkeit, ihn in künftige Modellgenerationen einzubauen. Die Systeme erkennen per Kamera und Radar, wenn sich im toten Winkel neben dem Lkw Radfahrer oder Fußgänger aufhalten, und warnen den Fahrer entsprechend.

Auch die von vielen Anbietern auf der IAA vorgestellten digitalen Außenspiegel sollen zu mehr Sicherheit beitragen – hier sorgen Weitwinkelkameras für mehr Überblick über die Zone unmittelbar neben dem Lkw. Darüber hinaus würde der Verzicht auf konventionelle Außenspiegel auch die Aerodynamik der Lastwagen steigern und somit zur Senkung des Kraftstoffverbrauchs beitragen. Doch auch hier ist die Technik weiter als der Gesetzgeber: Bislang sind konventionelle Spiegel an den Fahrzeugen noch von der Straßenverkehrsordnung vorgeschrieben.

Es geht weiter auf dem Weg zum autonomen Fahren

Doch die Richtung ist klar, und die Neuheiten der IAA Nutzfahrzeuge 2016 liefern dafür klare Beweise. So resümiert auch VDA-Pressechef Eckehart Rotter: „Wir befinden uns in der Transformation einer gesamten Branche. Automatisierung und Vernetzung bringen klare Vorteile, weil sich mit ihnen etwa die Anzahl von Leerfahrten reduzieren und auch die Zahl von Unfällen senken lässt. Das sind Riesenvorteile für Speditionen, Fahrer und Logistikdienstleister.“

Natürlich schwingt bei den Präsentationen neuer Lösungen immer auch eine Frage mit: Zeigen Zulieferer und Hersteller sie auf der Messe, weil sie eben technisch realisierbar sind – oder erfüllen sie wirklich die Bedürfnisse der Logistikbranche? Diese Frage haben wir Christian Labrot, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes Wirtschaft, Verkehr und Logistik BWVL, gestellt. Er sieht wie bei vielen Technologien ein Henne-Ei-Problem, ist aber überzeugt, dass viele der auf der Messe vorgestellten Innovationen Effizienzsteigerungen und Sicherheitsverbesserungen bringen – und deshalb die Unternehmer und Anwender von ihrer Nützlichkeit überzeugen werden.

Insofern steht wohl heute schon fest, dass die Branche auch bei der nächsten IAA Nutzfahrzeuge, die im Jahr 2018 stattfinden wird, wieder die nächsten großen Schritte in Richtung autonomes Fahren gehen wird. Und dann wird die Welt wieder ein Stückchen intelligenter sein.

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