Fraunhofer IUK macht „hörig“

Aufmacherbild: (C) Fraunhofer IDMT / Daniel Schmidt

Was haben Lautsprecherdurchsagen auf Bahnhöfen mit Konferenzen und Mobilfunkgesprächen gemeinsam? Man versteht sie oft nicht optimal, vor allem Schwerhörige haben damit  Probleme. Das soll sich bald ändern – dank einer ausgeklügelten Software eines Instituts der Fraunhofer-Gruppe Informations- und Kommunikationstechnik. Ihre Technologien decken die gesamte Wertschöpfungskette ab und machen nicht nur Industriekunden im positivsten Sinne „hörig“, sondern auch fast jeden Anwender – wie zum Beispiel Autofahrer, Smartphone-Nutzer oder die Fans der erfolgreichsten Hörspielserie der Welt.

„Sie haben Anschluss an die Züge…“

… spätestens hier entfleucht den Ohren vieler Bahnreisender so manch wertvolle Information der Lautsprecherdurchsage. Rattert ein Güterzug vorbei, versteht man oftmals nur die Hälfte. Zumindest dort, wo „ADAPT DRC“ noch nicht zum Einsatz kommt. Denn diese Software verbessert die Verständlichkeit von Sprache deutlich – auch bei den Stimmen von Sprechern auf Konferenzen oder bei Gesprächen über Mobiltelefone.

Der Trick besteht darin, dass der Lärm in der Umgebung über ein Mikrofon permanent analysiert und die Sprache in Echtzeit daran angepasst wird. Dabei reicht es nicht, die Stimme über Lautsprecher oder Mobiltelefon einfach lauter zu machen, um den Lärm zu übertönen. Da Sprachsignale deutlich komplexer aufgebaut sind, müssen bestimmte Tonhöhen gezielt verstärkt werden. Etwa bei Konsonanten, die für das Sprachverständnis sehr wichtig sind, weil sie zum Beispiel den Ausschlag geben, ob man „Kasse“ oder „Tasse“ versteht.

Die Standorte der Mitgliedsinstitute der Fraunhofer-Gruppe Informations- und Kommunikationstechnik. (C) Fraunhofer IUK
Die Standorte der Mitgliedsinstitute der Fraunhofer-Gruppe Informations- und Kommunikationstechnik. (C) Fraunhofer IUK

Entwickelt wurde ADAPT DRC von Forschern des Fraunhofer-Instituts für Digitale Medientechnologie (IDMT), das wir hier beispielhaft in den Vordergrund stellen – stellvertretend für alle Mitgliedsinstitute der Fraunhofer-Gruppe Informations- und Kommunikationstechnik (IUK). 19 an der Zahl bilden eine strategische Allianz, ihre gut 3000 Mitarbeiter und ein Jahresbudget von etwa 180 Millionen Euro machen die Fraunhofer-IUK-Gruppe zum größten Forschungsverbund Europas. Insgesamt besteht die Fraunhofer-Gesellschaft sogar aus 66 Instituten.

Die von Fraunhofer IDMT entwickelten Algorithmen können bestimmte Frequenzen gewichten und zum richtigen Zeitpunkt genau jene verstärken, die durch die Umgebungsgeräusche besonders gestört werden. Außerdem berücksichtigt die Software die unterschiedlich lauten Anteile des Sprachsignals, denn gesprochene Sprache setzt sich aus lauten und leisen Teilen zusammen.

Anwendungsorientierte Forschung im Fokus

Durch die Vernetzung der Institute können branchenspezifische Lösungen aus der anwendungsorientierten Forschung entwickelt werden – zum Beispiel maßgeschneiderte IT-Konzepte, Technologieberatung oder Vorlaufforschung für neue Produkte und Dienstleistungen. Vom smarten Mobiltelefon bis zum intelligenten Stromnetz, vom Operationssaal bis zum Assistenzsystem im Auto: Überall kommt immer komplexere Informations- und Kommunikationstechnik zum Einsatz. Ihre Optimierung oder Neuentwicklung hat sich die Fraunhofer-IUK-Gruppe zum Ziel gesetzt. Oder wie der Verbund auf seiner Webseite selbst schreibt:

„Die rasante Entwicklung der IT bietet unüberschaubare Möglichkeiten für einzelne Unternehmen. Der Anwender kann kaum noch allein entscheiden, welche Investition ihm nachhaltig einen Wettbewerbsvorsprung verschafft. Kurze Innovationszyklen machen IT-Kenntnisse außerdem zu einer schnell verderblichen Ware.“

Unglaubliche Vielfalt in der Forschung

Eine Übersicht der über ganz Deutschland verteilten 19 Mitgliedsinstitute des Fraunhofer-Verbunds finden Sie hier.

Das IDMT, das die eingangs vorgestellte Sprach-Optimierungs-Software entwickelt hat, hat seinen Sitz in Ilmenau. Allerdings stammt die Entwicklung selbst von der IDMT-Außenstelle in Oldenburg: Die „Projektgruppe Hör-, Sprach- und Audiotechnologie“ hat sich zum Ziel gesetzt, wissenschaftliche Erkenntnisse über die Hörwahrnehmung des normalen und des beeinträchtigten Gehörs in technologische Anwendungen umzusetzen. Erforscht wird beispielsweise, welche Faktoren die Sprachverständlichkeit und die subjektiv empfundene Klangqualität beeinflussen, wie beide Aspekte beispielsweise für Menschen mit altersbedingten Hörminderungen verbessert werden können – und auch wie Mensch-Maschine-Kommunikation die Steuerung komplexer technischer Systeme möglich macht.

Im Falle von ADAPT DRC war ein besonderer Nebeneffekt eher zufällig: „Wir waren positiv überrascht, dass die Verbesserung von Lautsprecherdurchsagen oder der Stimme im Handy oder Headset mithilfe der Software bei Schwerhörigen offenbar allgemein das Sprachverständnis verbessert“, sagt Jan Rennies-Hochmuth, Gruppenleiter „Persönliche Hörsysteme“ am IDMT. Dies war vor allem deshalb überraschend, weil Schwerhörige normalerweise ganz unterschiedliche Hörbeeinträchtigungen haben, sodass Hörgeräte individuell angepasst werden müssen. Die Software aus Oldenburg dagegen hilft fast jedem Betroffenen.

Der Konzertsaal zum Mitnehmen – demnächst in Ihrem Auto?

Ein anderes Beispiel, diesmal vom Fraunhofer-Institut für Integrierte Schaltungen (IIS): der Konzertsaal zum Mitnehmen. Auch hier geht es um eine neuartige Audio-Software – doch sie erzeugt ein natürliches dreidimensionales Musikerlebnis. Ob übers Smartphone oder im Auto – der Zuhörer hat stets das Gefühl, mitten im Konzertsaal zu sitzen.

Dazu haben die Forscher Harald Popp, Oliver Hellmuth und Jan Plogsties die beiden Softwarelösungen „Cingo“ und „Symphoria“ entwickelt. Ihre Vorteile erklären sie in dreieinhalb Minuten in einem, sagen wir, Musikvideo der anderen Art:

Der Clou: Cingo und Symphoria analysieren, welche Elemente einer Aufnahme Direktschall oder Reflexion sind, und fügen diese anschließend zu einem natürlichen dreidimensionalen Klang zusammen. Denn in einem Konzertsaal kommt die Musik nicht nur direkt von der Bühne, ebenso hören wir die Reflexionen des Schalls von der Decke und den Wänden.

Den Praxisnutzen immer vor Augen

Die Markteinführung sollte von Anfang an im Fokus stehen, so das Credo der Fraunhofer-Gesellschaft. So nutzt Google die Cingo-Software seit 2013 in allen Geräten der Nexus-Serie, Samsung brachte sie in seiner Virtual-Reality-Brille auf den Markt, und bei Audi erklingt Symphoria in den Modellen TT, Q7 und R8.

Die Softwarelösungen von Harald Popp, Oliver Hellmuth und Jan Plogsties erzeugen in Fahrzeugen und mit mobilen Endgeräten 3D-Surround-Sound. (C) Fraunhofer IIS
Die Softwarelösungen von Harald Popp, Oliver Hellmuth und Jan Plogsties erzeugen in Fahrzeugen und mit mobilen Endgeräten 3D-Surround-Sound. (C) Fraunhofer IIS

„Wie immer haben wir uns überlegt: Wenn das gut funktionieren würde, wer könnte es brauchen? Nach ersten Gesprächen haben wir schnell gemerkt, dass es großes Interesse von Unternehmen an gutem 3D-Surround-Sound gibt“, erzählt Harald Popp, der sich um die Vermarktung der Anwendungen kümmert.

Die „erfolgreichste Hörspielserie der Welt“

Gemeint ist die Kult-Hörspielreihe „Die drei ???“, die im letzten Jahr in einer neuen Hördimension bestaunt werden konnte – im Zeiss Planetarium Bochum, wo regelmäßig aufwendig umgesetzte Live-Shows stattfinden.

Im Zeiss Planetarium Bochum erleben die Besucher ungeahnt räumlich-realistische Klangqualität. (C) Fraunhofer IDMT
Im Zeiss Planetarium Bochum erleben die Besucher ungeahnt räumlich-realistische Klangqualität. (C) Fraunhofer IDMT

Dank des neuen „Shure Atmosphea 3D Surround-Systems“ erlebten die Besucher der Show die drei Hobby-Detektive in ungeahnt räumlich-realistischer Klangqualität. 58 individuell ansteuerbare Lautsprecher schaffen im Bochumer Kuppelkino ein nie dagewesenes räumliches Sounderlebnis für jeden der 260 Sitzplätze des Planetariums.

Auch hinter dieser Entwicklung stecken Forscher des Fraunhofer IDMT – in Zusammenarbeit mit dem Audio-Hersteller Shure. „Atmosphea“ arbeitet mit Algorithmen der Wellenfeldsynthese, basierend auf der „SpatialSound Wave Technologie“ des IDMT. So entsteht das Gefühl, tatsächlich mittendrin zu sein, wenn die Detektive Justus Jonas, Peter Shaw und Bob Andrews sich aufmachen, das Rätsel um eine gestohlene Mumie zu lösen.

Fraunhofer verbindet Wissenschaft mit praktischer Anwendung

Übrigens: Namenspatron für die Fraunhofer-Gesellschaft war der Forscher, Erfinder und Unternehmer Joseph von Fraunhofer (1787–1826). Auf ihn geht eine besondere Denkweise in der Entwicklung von Innovationen zurück: Der Optiker und Physiker gab der Verbindung von zwei Aspekten höchste Priorität: exakter wissenschaftlicher Arbeit und ihrer praktischen Anwendung. Dieses Ziel verfolgt nun die „Fraunhofer-Gesellschaft zur Förderung der angewandten Forschung e.V.“ seit ihrer Gründung im Jahre 1949. Mit gut 23.000 Mitarbeitern ist sie die größte Organisation für angewandte Forschungs- und Entwicklungsdienstleistungen in Europa.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert